Das Spielzimmer! Was für eine maßlose Untertreibung! Bisher kannte Beffaná nur die Küche des Krampus und das so genannte Studierzimmer, einen kleinen Raum, vollgestopft mit den seltsamsten Gegenständen, einem kleinen Tisch und mehreren Stühlen. Hier hat sie bisher die Abende mit dem Krampus verbracht.

Das Spielzimmer dagegen ist weder klein noch groß. Es ist… maßlos! Beffaná kann nicht einmal Wände erkennen, stattdessen Unmengen von Kram und Leitern und Büchern und Bäumen und Ritterburgen, kaputten Autos und Geheimtüren. Das Spielzimmer scheint direkt aus den Träumen eines 5-jährigen Kindes entsprungen zu sein, um sich dann auf die 20-fache Größe aufgebläht zu haben. Krampus wühlt in einem Haufen aus Laub, Zweigen und kaputten Kinderfahrrädern, bis er einen rostigen Schlüssel in der Hand hält.
„Die Tür, die Tür, die Tür…“ murmelt er.
„Meister…“ Beffaná weißt auf ein mindestens 5 Meter hohes Portal, das sich zwischen zwei alten Putzeimern erhebt.
„Ist das nicht ein bisschen groß?“ fragt der Krampus, schaut auf den Schlüssel in seiner Hand und probiert ihn schließlich doch.. „Schau an, passt tatsächlich!“
Er dreht den Schlüssel um und stößt die beiden Flügeltüren des Portals nach innen auf. Sie stehen in einer mächtigen, schmucklosen Halle aus Marmor, in deren Mitte sich ein Tisch befindet und auf einem Stuhl dahinter ein ernster junger Mann, drei oder vier Jahre älter als Beffaná.

„Hier ist eine junge Hexe, die ich unterweise“, sagt der Krampus und ist verschwunden. Hinter Beffaná kracht das Portal in sich zusammen und der Tisch mit Beffaná und dem Anderen bleibt in vollkommender Leere zurück.
„Setz dich“, sagt der Andere. „Das hilft gegen den Schwindel.“
Unter Beffanás Füßen ist nichts. Kein Boden, nicht einmal Schwärze, einfach Leere. Das Gleiche gilt für die „Wände“, oder besser das, was in der normalen Welt der Platz wäre, wo man Wände vermuten würde. Gleißende, verwirrende Leere.
„Wer bist du“ fragt Beffaná und setzt sich auf den zweiten Stuhl am Tisch, dem Anderen gegenüber. Ihre Stimme verhallt im Nichts.
„Lass uns spielen“, sagt der andere. „Jeder Punkt ist eine Antwort wert.“
Das Spiel heißt „BigFoot“ und ist im Prinzip nichts anderes als Schiffe versenken. Der Tisch vor ihnen hat statt einer Tischplatte ein Spielfeld, auf dem ein echter, winzigkleiner Wald wächst. Die Bäume stehen in dichten Reihen nebeneinander.
„Platziere Deine Waldmonster“, sagt der Andere. Am Tischbein neben Beffaná krabbeln daumengroße, haarige Miniwesen den Tisch hoch und platzieren sich an der Spielfeldkante. Gleiches geschieht es auf der anderen Seite, nur dass Beffanás Monster weiß und die des Anderen pechschwarz sind.
„Los, verstecke sie“, sagt der andere. Seine Schwarzen springen von der Tischkante in den Wald hinein und sind verschwunden. Beffaná tut es ihm gleich. Sie denkt sich für jedes Monster einen anderen Baum aus und alle zehn Weißen tauchen im Wald unter.
„Weiß beginnt“, sagt der Andere.
„Wie denn?“
„Ich zeig’s dir. Wenn du erlaubst. Weiß: F3.“
Im Gehölz vor ihm raschelt es und Beffaná sieht zwischen den Zweigen eins ihrer Monster zum dritten Baum von links in der sechsten Reihe rennen. Dann schüttelt es den Baum so lange, bis ein schwarzer aus der Krone auf den Boden fällt und sich maulend neben den Baum setzt. Der Weiße jubelt kurz und verschwindet im Unterholz.
„Ein Punkt für Dich“, sagt der Andere. „Deine Frage.“
„Wie heißt du?“
„Minotauros Asterios, meine Freunde nennen mich Mino. Los, du bist noch mal dran. Wer den Punkt hat, hat den nächsten Zug.“
„Weiß: A1.“
Ein weißes Monster erscheint, raschelt durch die Bäume, schüttelt den Baum ganz vorne links auf Beffanás Seite, aber nichts geschieht. Das weiße Monster hebt traurig die Schultern und verschwindet im Wald.
„Schade“, sagt Mino. „Schwarz: B6. Wie hast Du den Krampus kennengelernt, Beffaná?“
„Aber woher weißt…“ setzt Beffaná an, da schüttelt ein schwarzer schon einen ihrer Bigfoots vom Baum.
„Sami hat mich zu ihm geführt.“
„Schwarz: G2. Wer ist Sami?“
‚Verdammt!‘ denkt Beffaná, ‚Woher weiß er das?‘
„Gedankenkontrolle. Wer ist Sami?“
„Wenn du meine Gedanken lesen kannst, dann weißt du es doch selbst.“
„Ich mag es aber, deine Stimme zu hören.“
Beffaná stöhnt auf, Mino rollt mit den Augen.
„So hat mich schon lange niemand mehr genannt.“ Er lächelt spöttisch.
„Was bringt so ein Spiel, wenn man es gegen einen Gedankenleser spielt?“ schnaubt Beffaná.
„So wie ich das sehe, ist das der ganze Sinn des Spiels. Gedanken lesen trainieren.“ Mino lächelt immer noch spöttisch.
„Ich geb dir noch ’ne Chance. Nicht einfach blind raten. Versuch’s aus mir herauskriegen.“
Er schaut sie an. Schmale, graue Augen, mit ungewöhnlich langen Wimpern. Er wirkt viel erwachsener als die Jungs in Beffanás Klasse, obwohl er nicht wirklich größer ist als sie. Er trägt ein schlichtes, eng anliegendes T-Shirt mit langen Ärmeln, seine Hände liegen ruhig auf der Spielfeldkante, nur der linke Daumen trommelt fast unmerklich auf das Holz.
„Gut“, sagt Mino. „Du bist auf dem richtigen Weg. Du musst einen Weg in mich hinein finden.“
„Wie hast DU es gemacht?“ fragt Beffaná.
„Viele Fragen für jemanden, der erst einen Punkt hat“, lächelt Mino. „Aber gut. Wer ist Sami? Dein Mund hat sich verzogen, Dein rechtes Auge hat sich leicht zusammengekniffen. Du hast nicht gezuckt. Die Frage hat dich ein bisschen gewundert, aber ich hab keine Gefühle gesehen, keine Verteidigung, keinen Schutzinstinkt. Sami ist dir nicht besonders nahe, du fühlst dich nicht verantwortlich für ihn, Fragen nach ihm erstaunen dich, aber sie sind weder Belastung noch Kitzel. Du kennst ihn, du bist vielleicht an ihn gewöhnt, aber du hängst nicht wirklich an ihm, du liebst ihn nicht, er gehört nicht zu deiner Familie. Trotzdem führt er dich zu einem Haus mitten im Wald. Was bleibt da übrig? Entweder du rennst einfach jedem fremden Trottel hinterher oder Sami ist der finnische Spitz, der schon ewig für den Krampus arbeitet und dem ich die ersten Zaubertricks beigebracht habe!“
Mino lacht und Beffaná fühlt sich verschaukelt.
„Woher wusstest du MEINEN Namen? Du hast mich nicht danach gefragt.“
„Versuch es rauszukriegen. Ich verspreche es, keine Tricks. Such Dir einen Weg in meine Gedanken.“
Wieder schaut er sie an, den Mund immer noch zu einem leicht spöttischen Lächeln verzogen. Seine schmalen Nasenflügel heben und senken sich. War das ein Zucken? ‚Ist er gespannt, ob ich einen Weg finde?‘ fragt sich Beffaná. Wie lange hat er hier gesessen, bis wir hereingekommen sind? Das mit dem Schlüssel war bestimmt nur Show vom Krampus. ‚Oh, ob der wohl passt?‘, das ist seine Art Show. Er tut immer, als sei alles spontan, alles frei und chaotisch, aber eigentlich ist er immer genauestens vorbereitet. Er überlässt nicht dem Zufall… Mino hat gewartet. Auf Geheiß des Krampus? Ohne jeden Zweifel. Und ich war ziemlich spät heute, denkt Beffaná. Mindestens eine Stunde später als sonst. War er etwa die ganze Zeit hier und hat gewartet? Gespannt gewartet, bis wir endlich kommen? Was hat der Krampus ihm vorher erzählt? Der Krampus ist niemand, der sich jemanden wie Mino als Schoßhündchen hält. Er mit seinem „Musst du selbst entscheiden bliblablubb. Er hat Mino dazu gebracht, freiwillig auf mich zu warten. Mino war gespannt wie ein Flitzebogen. Da, die Nasenflügel, bewegen sie sich schneller? Und der Daumen klopft schneller, nervöser. Mino hat gewartet, freiwillig, er ist einsam, er freut sich, dass er jemanden kennenlernen darf, von dem ihm der Krampus schon viel erzählt hat, die er, Mino, beim ersten Treffen sofort beeindrucken will, er sehnt sich danach, mit mir zusammenzusein, dem Mädchen, das der Krampus für so wichtig hält, dass er seinen besten Schüler so lange warten lässt, um diese Show abzuziehen für das Mädchen, seinen neuen Star.
Minos Handknöchel knallen kurz und kräftig auf den Tisch. „Das hättest du wohl gerne, Beffaná“ zischt er und springt auf:
„C5…!“ ruft er. „A5…, I5! B2! H…3! D6, F4, A7! Das sind acht Punkte und acht Fragen. Aber weißt du was? Ich verzichte!“
Beffaná ist beeindruckt. Aber nicht allzu lange.
„Weißt du, was ich mir wünschen würde, wenn ich der Krampus wäre?“ fragt sie. Sie wartet die Antwort nicht ab. „Ich würde mir einen Sohn wünschen, der begabt ist, wie ich, aber besser aussieht, wie ein junger Prinz.“ Beffaná beißt sich auf die Zunge. Das war ein bisschen drüber.
„Ach?“
„Du bist sein Sohn, oder? Du bist der Sohn des Krampus, Mino. Und: E3, komm raus!“
Aus der Krone des Baumes winkt ein kleiner BigFoot heraus.
„Ja“, sagt Mino. „Der Zwerg hat einen jungen Prinzen großgezogen. E3 war gut. Zufallstreffer?“
„Er hat sich bewegt.“ sagt Beffaná. „So wie dein linker Daumen. Du bist Linkshänder, hab ich Recht?“
„Ich verstehe, was mein Vater in Dir sieht,“ sagt Mino. „Du bist vielleicht nur eine mäßige Hexe. Aber schlau, das muss ich zugeben.“
„Danke“, sagt Beffaná, „Potzblitz, ein Lob von einem jungen Prinzen.“ Und sie streckt ihm grinsend die Zunge raus.

Beffaná (St. 5, Kap. 11): Minotauros Asterios
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