„Ulixes remedium in potionem fudit eamque sine timore bibit.“
Beffaná hasst sich dafür, dass sie Latein gewählt hat. Niemand braucht Latein. Niemand mag Latein. Niemand KANN Latein. Aber Jessie steht auf Mittelalter und auf Fantasy-Rollenspiele. Also hat sie Latein gewählt, weil sich das irgendwie nach Mittelalter angehört hat. Und Beffaná hat gewählt, was Jessie gewählt hat. Was keine von beiden bedacht hat, ist, wie sich Lateinunterricht in der sechsten und siebten Stunde anfühlt. Beffaná gähnt herzhaft und schaut auf die Uhr. 5 Minuten sind vorbei. 5 Minuten von einer Doppelstunde in der Sechsten und Siebten.
Nergün liest den lateinischen Text wie die Anleitung zu ihrer eigenen Beerdigung. 95 Prozent hirntot, mit einem Esslöffel Fassungslosigkeit und einer Prise Verzweiflung.
„Tum Circa: ‚Abi hinc in haram!‘ eumque virga tetigit.“
„Tum Kirka!“ berichtigt Herr Schmus, der Lateinlehrer. „Tum Kirka!“
„Die Welt ist schlecht“, denkt Beffaná. „Und gemein.“ Sie ist todmüde. Nicht nur, dass sie gestern noch allerhand damit zu tun hatte, zusammen mit Esmeralda den Schlamassel vom Kinderspielplatz geradezubiegen, sie war natürlich abends auch noch beim Krampus. Tarnung und Verwandlung. Und schließlich hatte Sami später noch darauf bestanden, nachts oben bei ihr zu schlafen, denn er war den ganzen Nachmittag in Esmeraldas Badezimmer eingesperrt gewesen.
„Notwehr!“ Hatte Esmeralda nur gesagt. „Er frisst sonst meine Pflanzen. Und mit rausnehmen konnte ich ihn nicht.“
„Warum?“ hatte Beffaná gefragt.
„Keine Lust.“
Jedenfalls war Sami die ganze Nacht im Zimmer herumgesprungen, hatte Beffanás Sockenschublade zerwühlt und Beffaná selbst eine wirklich schlimme Nacht beschert.
„Stupens Ulixem aspexit. Hic figuram suis non sumpsit.“
Es klopft. Achtundzwanzig dankbare Augenpaare, darunter auch das von Herrn Schmus, schauen zur Tür.
„Herein.“
Draußen steht Frau Feuerbusch, die Schulleiterin. Sie schaut sehr ernst. Neben ihr hibbeln Esmeralda Schniggendfittich und Sami um die Wette.
„Beffaná, kommt du mal bitte heraus?“ fragt die Schulleiterin. „Und nimm besser deine Sachen mit.“
Als Beffaná im Flur steht, räuspert sich die Schulleiterin umständlich.
„Beffaná, dein Großvater ist gestorben?“
„Hä? Moment! Was für ein Großvater?“
„Entschuldigung!“ ruft Esmeralda. „Das ist jetzt ein Missverständnis! Ich habe gesagt ‚Mein Helmut ist gestorben!'“
„Oh.“ sagt Beffaná.
„Und wer genau ist Helmut?“ fragt Frau Feuerbusch.
„Meine Orchidee!“ ruft Esmeralda. „Meine Drittlieblingsorchidee!! Nach Schorsch und Sieglinde.“
„Oh.“ sagt Beffaná.
Frau Feuerbusch ist nicht amüsiert.
„Beffaná Grimm, könntest du deiner Großmutter bitte beibringen, dass meine und deine Zeit wirklich zu schade sind, um vertrocknete Pflanzen zu betrauern?!“
„Sie ist nicht meine Großmutter“, sagt Beffaná.
„Oh.“ sagt Frau Feuerbusch.
Beffaná sieht ein, dass es Zeit ist, ihre Direktorin zu erlösen.
„Sie ist eine Nachbarin“, raunt sie Frau Feuerbusch zu. „Sie ist ja schon etwas älter und manchmal… sie wissen schon…“ Frau Feuerbusch registriert Beffanàs versteckte Handbewegung und lenkt ein.
„Meinst du, du könntest sie nach Hause bringen?“
„Wenn das für Sie in Ordnung ist…“ sagt Beffaná.
Esmeralda und Sami spielen inzwischen hinter den Säulen im Korridor Verstecken.
„Natürlich, Beffaná. Bring sie besser sofort nach Hause.“

„Heiliger Gummibaum!“ stöhnt Esmeralda, als sie im Bus sitzen. „Zum Glück hab ich dich gefunden!“
„Worum geht’s denn überhaupt?“ fragt Beffaná.
„Um meinen Zauber gestern!“ Esmeralda redet etwas leiser:
„Wie sieht’s denn bei Joshua aus? Hat er sich merkwürdig verhalten heute? Meinst du, er erinnert sich?“
„Ich glaube nicht“, sagt Beffaná. „Ich hab hallo gesagt, so wie immer. Und er hat irgendwas gemurmelt und ist abgedampft. So wie immer.“
„Bei deinem Bruder hat der Vergessenszauber irgendwie nicht funktioniert“, wispert Esmeralda. „Er stand eben vor meiner Tür und wollte einen Todesstern und einen Supersternzerstörer haben. Was immer das auch ist. Sonst sagt er’s, hat er gemeint.“
Sami mischt sich ein.
„Sorry, dass ich mich direkt in Eure Köpfe einschalte“, telepathiert er, „aber sonst kriegen die anderen Leute hier im Bus gleich wieder Herzrhythmusstörungen. Ich hab von solchen Fällen schon gehört. Bei Hunden oder Vampiren funktioniert dieser Zauber überhaupt nicht.“
„Ja, aber das kann bei Jacob eigentlich nicht sein“, sagt Esmeralda, „weil…“
Hier stoppt sie abrupt. Beffaná hat schon verstanden.
„Weil du es schon mal bei ihm gemacht hast, hab ich Recht?!“
„Notlage!“ zischt Esmeralda.
„Wie auch immer“, sagt Beffaná, „dieses mal hat es nicht geklappt. Und was machen wir jetzt?“
„Ich wollte dich eigentlich fragen, wo man sowas bekommt, Todesstern und Supersternzerstörer? Ist das was mit Kämpfen?“
„Wir kaufen dem Rotzblag keinen Supersternzerstörer!“ ruft Beffaná.
Drei Leute vor ihnen drehen sich um. Eine Mutter nickt verständnisvoll.
Beffaná senkt die Stimmte: „Er hat den letzten schon kaputt gemacht!“
Die Mutter dreht sich kopfschüttelnd weg.
„Können wir den Zauber nicht noch mal versuchen?“
Aber Esmeralda winkt ab.
„Zu gefährlich Beffaná. Wenn ich zu viel in diesem kleinen Kopf durcheinanderbringe, hab ich Angst, dass ich nachher nicht weher weiß, wie ich alles wieder richtig zusammensetze.“
Die Mutter vor ihnen nimmt ihre Tochter an die Hand und setzt dich vier Reihen weiter nach vorne.
„Gut“, sagt Beffaná. „Dann müssen wir dem kleinen Erpresser einfach sein Druckmittel aus der Hand nehmen. Er will meinem Vater alles erzählen? Soll er doch!“
„Nein!“ kreischt Esmeralda. „Das geht nicht!“
„Quatsch!“ zischt Beffaná, „weiß ich doch. Aber Jacob weiß es nicht. Ich hab einen Plan.“

Eine Stunde vor dem Abendessen steht Esmeralda Schniggenfittich mit einem kleinen Hund und Anil Grimm bei Jacob im Zimmer.
„Jacob.“ Anil hüstelt und räuspert sich. „Wir müssen eine ernste Sache mit dir besprechen.“
„Papa, ich spiele gerade“, sagt Jacob.
„Es geht auch ganz schnell, Herrgott!“ ruft Anil. Dann besinnt er sich und redet ruhig weiter. „Du bist doch schon groß und so.“
Jacob beäugt seinen Vater misstrauisch. „Du hast gesagt, dass ich bis zum Abendbrot alleine spielen soll, weil du noch ein Meeting hast, und dass ich dann eine Belohnung kriege. Krieg ich die trotzdem?“
„Natürlich Jacob.“
„Auch das Doppelte?“
„Herrschaftszeiten du Frettchen, ich geb Dir gleich das Doppele!“
Doch bevor Anil sich weiter in Rage reden kann, hat Esmeralda ihn gestoppt und kniet sich vor Jacob hin.
„Ich hab deinem Vater eben von gestern erzählt. Er war nicht sehr begeistert, oder, Herr Grimm?“
„Nein überhaupt nicht. Ich war sehr erbost.“
„Aber er hat mir verziehen.“
„Ja, denn es ist wichtig, dass man Sachen verzeihen kann. Merk dir das gut, mein Sohn.“
Jacob schaut von seinem Vater zu Esmeralda.
„Papa, ich bin fast im Sturzflug in eine Tankstelle hineingekracht! Und die da ist auf Beffanás Seite!“
„Ja, mein Sohn. Das ist ärgerlich. Und Frau Schniggenfittich und Beffaná haben mir fest versprochen, dass so etwas nie wieder passiert. Nicht wahr, Frau Schniggenfittich?“
„Nie wieder. Indianehrenwort.“
„Wo ist überhaupt Beffaná, Papa? Hat sie’s auch versprochen?“
„Aber selbstverständlich! Es tut ihr unendlich leid, sie schämt sich sehr und hat jetzt eine Woche Hausarrest!“
„Aber Beffaná ist sowieso immer zuhause! Das ist doch überhaupt keine Strafe!“
„Aber sie schämt sich doch!“
„Das soll sie mir selber sagen. Und sich verbeugen und mir die Füße küssen und dann begnadige ich sie vielleicht!“
„Du elende Ratte!“ Anil Grimm wirft sich auf Jacob und noch während er versucht, Jacob in den Polizeigriff zu nehmen, verwandelt er sich zurück in Beffaná.
Jacob stößt einen gellenden Schrei aus und Esmeralda Schniggenfittich vergräbt ihr Gesicht in ihren Händen.
„Jetzt pass mal auf, du Furzknoten!“ zischt Beffaná und verwandelt kurzerhand eine von Jacobs Star-Wars-Figuren in einen bräsig-quakenden Ochsenfrosch. „Das und viel Schlimmeres passiert Dir auch, wenn Du irgendjemandem von der ganzen Sache erzählst. Hast Du das verstanden? Sprich mit mir! Hast Du das verstanden?!“
„Ja.“ sagt Jacob. „Unter der Bedingung, dass ich einen Todesstern…“
Weiter kommt er nicht. Sami und Esmeralda versuchen noch, Beffaná zu stoppen, aber sie richtet schon den Finger auf Jacob und zischt ein paar unverständliche Worte. Jacob erstarrt und fällt um.
„Beffaná!“
„Um Himmels Willen!“
Esmeralda kniet sich neben Jacob. „Zum Glück, er scheint unverletzt zu sein! Beffaná, was war das denn?“
Beffaná sackt völlig erschöpft in sich zusammen. „Der Froschzauber“, stöhnt sie. „Ich war wohl einfach zu schwach.“
„Zum Glück“, murmelt Esmeralda. Sami leckt Jacob das Gesicht ab und der Junge kommt langsam wieder zu sich.
„Okay“, murmelt er. „Den Millenium Falcon. Mein letztes Wort.“
Esmeralda schaut eindringlich zu Beffaná.
„Gut“, sagt die schließlich. „Aber ich muss erst noch Geld holen. Potzblitz.“

Beffaná (St. 5, Kap. 10): Todesstern
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