Beffaná hat einen Traum. Es ist derselbe Traum wie immer, doch natürlich ist das Unsinn, kann nicht sein. Denn sie träumt ihn jetzt zum ersten Mal. Es gibt Träume, von denen du weißt, dass es Träume sind und von denen du noch im Traum denkst, dass du sie schon hundertmal geträumt hast und dennoch wachst du nicht auf. Oder vielleicht wachst du auch auf, aber es kommt dir vor, dass du den Traum bevor du aufwachst, stundenlang durchlebst. Träume machen keinen Sinn und das ist traurig, wenn es schöne Träume sind.

Das hier ist ein schöner Traum. Sie fliegen in den Wolken. Beffaná weit vorne, ihre Mutter hält sie ganz fest. Ihr kann nichts passieren. Ihre Mutter sitzt dicht hinter ihr, auf einem Besen.
„Mama ist eine Hexe“, denkt Beffaná. „Mama hält mich fest, bei Mama ist es sicher.“
Unter ihnen heult der Wind. Er trägt sie. Er passt auf sie auf. Sie kuscheln sich in seine Böen wie in die flauschigen Bademäntel unten bei Tante Essi.
„Der Wind trägt uns sicher“, denkt Beffaná, „der Wind ist immer da, wenn Mama nach ihm ruft.“

Dann stürzt sie ab.

Beffaná liegt im Dunkeln und tastet nach Sami. Ach nein, er schläft ja unten. Sie knipst das Licht an, macht es sofort wieder aus.
„Warte“, denkt sie. Ihre Augen gewöhnen sich sehr langsam an die dunkle Umgebung. Draußen dämmert es, ganz schwach noch, aber es ist nicht mehr Nacht. Beffaná probiert einige der Zaubersprüche durch, von denen sie nie genau weiß, ob der Krampus sie ihr beigebracht hat oder ob sie ganz von alleine zu ihr gekommen sind. Ihr linker, kleiner Finger beginnt zu leuchten. Vorsichtig steht sie auf. Als erstes fällt ihr Blick auf den Adventskranz, den ihr Vater ihr gemacht hat. Er sieht welk und traurig aus, das Wasser unten in der Vase ist verschwunden. Beffaná gießt den Inhalt einer Wasserflasche hinein. Die Flasche steht an ihrem Bett, seit Esmeralda abends für ein paar Stunden darin schläft. Beffaná legt sich gerne in das vorgewärmte Bett, wenn sie nachts Esmeralda abgelöst und nach unten ins Bett geschickt hat. Die letzten Nächte war Sami abends bei Esmeralda, der Doppelgänger-Beffaná geblieben und hatte sich in Beffanás Zimmer unter dem Bett versteckt. Später war er zusammen mit Esmeralda nach unten gegangen. Er hatte nicht darauf bestanden, mit Beffaná in den Wald zu gehen und Beffaná kam auch allein klar. Oder war es ihr sogar lieber so? Ihr Bett riecht gut, wenn Esmeralda darin geschlafen hat. Was würde sie nur ohne die alte Wetterhexe machen? Erst nach und nach ist bei Beffaná wirklich angekommen, was sie ihr gestern erzählt hat. ‚Leah war ganz außergewöhnlich, selbst für eine Hexe‘. Sie hatte es ganz nebenbei gesagt und Beffaná war nicht eine Sekunde überrascht gewesen. Natürlich war sie eine außergewöhnliche Hexe, was denn sonst. Draußen schlägt die Turmuhr. Sechs Uhr morgens. Beffaná hat erst fünf Stunden schlafen, dennoch sie ist hellwach. Sie sollte erschöpft sein, nach den neuen Übungen, die Mino ihr gezeigt hat. Stattdessen ist sie aufgedreht und voller Tatendrang.

Die Zweige des Adventskalenders haben das Wasser fast vollständig aufgesogen, zum Glück sind sie noch nicht vertrocknet. Beffaná lässt alle 13 Blüten aufgehen. Dritter Advent, denkt sie, und die Weidenkätzchen aufgehen zu lassen, das war ja eigentlich ihre allererste Hexerei. Andererseits: Ihr Vater hat es ihr gezeigt, schon seit vielen Jahren schenkt er ihr und Jacob diesen wunderbaren Kalender, obwohl Jacob natürlich viel lieber Spielzeug hätte. Was genau weiß ihr Vater über die ganze Sache? Esmeralda sagt, dass er auf keinen Fall von ihren Ausflügen in den Wald erfahren darf. Doch warum nicht? Nur, weil er sich Sorgen machen würde? Oder wäre er aus ganz anderen Gründen dagegen? Es gibt einiges zu klären. Und plötzlich hat sie einen Plan, wie sie es anstellen kann.

Als Jacob und Anil in die Küche kommen, ist der Frühstückstisch gedeckt, in der Mitte der Tisches leuchtet der Adventskranz und daneben steht ein Teller mit fast überhaupt nicht angebrannten Pfannkuchen. Vielleicht gibt des Hexereien, wie man solche Gerichte perfekt hinbekommt, aber der Krampus hat nichts davon erwähnt und Beffaná ist überzeugt davon, dass er so etwas für Zeitverschwendung halten würde.
„Setzt euch doch!“ ruft sie. Schläfrig und verdutzt setzen sich die beiden männlichen Grimms an den Tisch und Beffanás Vater nippt vorsichtig an dem frisch gebrühten Kaffee vor ihm.
„Gar nicht übel“, sagt er.
„Ich hab den Tag schon durchgeplant“, erzählt Beffaná, noch während sie essen. „Wir beide, Papa, machen heute einen Spaziergang, Vater-Tochter-Vormittag. Und für Jacob gibt’s auch was Besonderes.“
Es klingelt.
„Da ist sie schon!“
Kurz darauf kommt Beffaná mit Esmeralda und Sami in die Küche. Sowohl Ihr Vater als auch Jacob gucken wie angestochen. Na klar, denkt Beffaná, Jacob hat wahrscheinlich Sorge, dass sein frisch erpresstes Spielzeug, der Millenium-Falke wieder in Gefahr ist. Und Papa…
„Esmeralda“, sagt er bereits. „Das ist eine Überraschung.“
„Papa, ich habe Frau Schniggenfittich heute morgen…“, „Früh morgen“, ergänzt Esmeralda etwas maulig, „…Frau Schniggenfittich heute morgen im Treppenhaus getroffen. Sie hat seit kurzem einen Hund und hat mich gefragt, ob ich heute…
„Ausnahmsweise“, schiebt Esmeralda ein,
„Ausnahmsweise mit ihm rausgehen könnte, weil sie sich…“
„…den Fuß verknackt hat…?“, setzt Esmeralda fort,
„Genau, den Fuß verknackst hat. Wär das okay?“
„Ja“, sagt Anil. „Klar.“
„Danke Papa! Kommst du mit? Bitte! Vater-Tochter-Spaziergang!“
„Und war ist mit Jacob?“
„Ich kann auf ihn aufpassen“, sagt Esmeralda, mit etwas zu offensichtlich überspielter Nicht-Begeisterung.
„Das kommt ein bisschen plötzlich“, sagt Anil. „Jacob und Esmeralda kennen sich ja kaum und eigentlich hab ich noch zu tun.“
„Du hattest gestern schon zu tun!“ entgegnet Beffaná. Sie schaut ihn dabei direkt an, obwohl er versucht, ihrem Blick auszuweichen. „Heute ist Sonntag, Papa. Adventssonntag. Und Jacob und Esmeralda werden bestimmt sehr gut miteinander klarkommen. Oder Jacob? Hast Du Papa eigentlich schon von deinem neuen Spielzeug…?“
„Papa, es wär bestimmt super, wenn Frau Schniggenfittich aufpasst“, sagt Jacob schnell. „Letztens auf dem Spielplatz hat sie auch schon mal…“
„Eben!“ ruft Beffaná. „Und ich darf endlich mal mit einem Hund raus. Da haben alle doch einen tollen Vormittag!“
„Wie gut, dass mich niemand gefragt hat…“ mault plötzlich Sami direkt in Beffanás Kopf, doch sie läuft schnell zu ihm hin und wuschelt ihm sehr unsanft im Fell herum.
„Los, gehen wir!“

Doch Anil Grimm ist ein harter Brocken. Ja, er geht mit Beffaná raus und lässt sich sogar von ihr zu einer großen Runde am Fluss entlang überreden, aber er ist wortkarg, stellt ihr ein paar Alibi-Fragen nach der Schule und brütet dann wieder still vor sich hin.
„Papa?“
„Ja?“
„Guck mal, Sami ist doch ganz süß…“
„Nein.“
„Jetzt schau doch mal genau hin…“
„Nein, du kriegst keinen Hund!“
„Wer sagt denn, dass ich einen Hund haben will?“
„Du. Seit drei Jahren. Wenn das der Plan für heute war, dann denkt dir besser was Neues aus. Kein! Hund!“
„Das war nicht der Plan.“
„Ach?“
„Nein.“
„Was ist denn der Plan?“
„Dass du mal mit mir redest.“
„Worüber?“
„Ist mir eigentlich egal. Ich will nur mal wieder mit meinem Papa reden.“
Nein, das war tatsächlich nicht der Plan. Beffaná bleibt stehen und fängt an zu weinen. Sami leckt an ihrem Hosenbein.
„Ach Große, was ist denn los?“
„Weiß ich nicht!“ schluchzt Beffaná. „Was ist denn mit dir los?“
„Weiß ich nicht“, sagt ihr Vater kleinlaut. „Ich hab mich nicht gut gekümmert, oder?“
„Nein“, sagt Beffaná. „Deine Papa-Performance in den letzten Wochen war echt mies.“
„Ja“, sagt Anil Grimm. „Ich weiß.“
Eine zeitlang stehen sie sich schweigend gegenüber. Schließlich fasst Beffaná sich ein Herz.
„Frau Schniggenfittich sagt, dass Mama und sie früher Freundinnen waren.“
„Sagt sie das? Seit wann unterhältst du mit Frau Schniggenfittich?“
„Seit sie mir dein Buch gegeben hat. Das mit deinem Namen drauf.“
„Es ist nicht mein Buch. Es gehörte deiner Mutter. Esmeralda, also Frau Schniggenfittich, hat es früher mal deiner Mutter geschenkt. Oder geliehen? Ich weiß es nicht mehr. Und dann, nachdem deine Mutter,,, gestorben war, hat es Esmeralda wohl wiederbekommen. Ich hab ihr damals viele Sachen geschenkt, die Leah gehört haben. Beffaná, du weißt, dass es mir schwer fällt, über die ganze Sache zu reden, okay?“
„Nur noch eine Sache, Papa!“
„Ja?“
„Warum redet ihr nicht mehr, Du und Frau Schniggenfittich? Wenn sie doch eine Freundin von… von Mama war? Wenn Du ihr sogar Mamas Sachen geschenkt hast?“
Ihr Vater schaut sie traurig an:
„Das ist schwer zu erklären, Große. Leah und Esmeralda waren die dicksten Freundinnen. Aber wenn die beiden zusammen waren, dann sind sie häufig so… übermütig geworden. Sie haben wirklich dumme Sachen zusammen gemacht. Gefährliche Sachen. Und bei einer dieser Sachen, da… da… Ich weiß, es war nicht Esmeraldas Schuld, aber Leah wurde immer so unvorsichtig, wollte beweisen, wie mutig sie ist und da…“
„Da ist der Unfall passiert, oder?“
„Ja, das stimmt. Und ich hab Leah noch gesagt, dass sie aufpassen soll. Sie hatte ja gerade erst Jacob bekommen.“
„Ihr hattet.“
„Was?“
„Na, du warst ja auch noch da, als Jacob kam.“
„Ja. Und dann war ich plötzlich alleine. Und das fand ich ungerecht. Erst war ich ganz doll traurig, aber dann fand ich es ungerecht und dumm von ihr, dass sie einfach weitergemacht hat mit ihren gefährlichen Sachen.“
„Was denn für Sachen?“
„Schluss für heute, Beffaná. Bitte. Frag doch besser Esmeralda. Wir haben uns schon so viel gestritten über diese Sache, aber sie war die einzige, die damals dabei war.“
„Danke, Papa, dass du’s mir erzählt hast. Ach so…“
„Was denn noch?“
„Was genau ist denn mit dem Buch? Ich hab’s angefangen, aber ich versteh nicht, warum Esmeralda es Mama geschenkt hat. Es ist einfach nur eine Geschichte über einen kleinen Zauberer.“
„Es ist eine Geschichte über einen kleinen Zauberer, der im Lauf der Zeit ziemlich viel Blödsinn anstellt. Der Dinge zaubert, die er nicht mehr kontrollieren kann und damit sich, seine Familie und sogar die ganze Stadt in große Gefahr bringt.“
„Aber das hört sich doch so an, als wollte Esmeralda Mama warnen, gefährliche Dinge zu tun?“
„Hm. Ja, da hast du wohl Recht. Hab ich noch nicht wirklich drüber nachgedacht.“
„Wäre es nicht gut, wenn du und sie, wenn ihr euch wieder vertragen würdet? Das ist doch jetzt schon viele Jahre her.“
Anil Grimm lacht auf: „Ach, Große, das wäre bestimmt gut. Das funktioniert nur nicht immer.“
„Aber probiert ihr es vielleicht mal, Esmeralda und du?“
„Ja, okay. Wir probieren es.“
„Danke.“
„Sag mal Beffaná, seit wann nennst du Frau Schniggenfittich eigentlich Esmeralda?“
„Weiß nicht. Seit… einer Woche?“
„Hast du das hier schon länger geplant? Kommt da noch mehr, oder war’s das jetzt?“
„Weiß nicht… Vielleicht?“
„Du kriegst keinen Hund!“
„Na gut“, mault Beffaná, nimmt aber trotzdem demonstrativ Sami auf den Arm.

Als sie nach Hause kommen, stürmt ihnen Jacob bereits entgegen.
„Also: Erstens, ich hab Hunger. Zweitens: Beffaná, es haben zwei verschiedene Jungs für dich angerufen. Dein geliebter Joshua und dann noch Mio, oder so. Und dann hat auch noch ein Lehrer angerufen, weil er dich über die Raben nicht erreichen kann, sagt er? Ich soll Dir ausrichten, du hast in der nächsten Stunde eine wichtige Prüfung und du sollst pünktlich sein.“
„Okay“, sagt Beffaná. „Wo ist denn Esmeralda?“
„Bei mir im Zimmer. Ich hab ihr gezeigt, wie Lego geht und jetzt baut sie. Schon seit Stunden. Sie ist richtig gut! Ach so. Und. Papa, uns ist beim Spielen die Vase mit dem Adventskalender umgefallen und dann bin ich auch noch draufgetreten. Tut mir leid.“
„Schon gut“, sagt ihr Vater. „Ich repariere ihn. Du weißt doch: Ich hab Zauberhände.“
Dann geht er zu Esmeralda in Jacobs Spielzimmer und ruft bereits kurze Zeit später: „Alles wieder okay, Jacob!“
„Potzblitz“, sagt Beffaná und beugt sich zu Sami runter.
„Kommst du heut nacht wieder mit?“ flüstert sie. „Das fand ich schön.“

Beffaná (St. 5, Kap. 13): Vater-Tochter-Vormittag
Markiert in: