Dieses elende, kleine Frettchen!
„Hau ab, ich rat’s dir!“ faucht Beffaná und klaubt ihre Schulsachen auf dem Boden zusammen.
„Jacob, Beffana! Kommt endlich zum Frühstück, in zehn Minuten müsst ihr los!“
Beffanás Vater ruft aus der Küche. Er klingt müde. Beffaná hat schon geschlafen, als er nach Hause gekommen ist.
Jakob flitzt aus ihrem Zimmer.
„Guck mal, Papa, Beffaná ist verliebt!“
Was zum… Beffaná durchwühlt ihren Haufen Bücher neben der Schultasche, die ihr Bruder ausgekippt hat. Das Buch ist weg. Und schlimmer noch: Das, was drin lag, der Zettel! „Liebe…. Joshua“ Die einzigen Worte, die von Joshuas Nachricht noch zu lesen waren.
„Beffaná, komm jetzt bitte!“
„Papa, er hat das Buch geklaut!“
Sie stürmt ihrem Bruder hinterher in die Küche. Der sitzt bereits Beine baumelnd an seinem Platz und streckt ihr die Zunge raus. In der linken Hand hält er triumphierend die verwaschene Nachricht.
Beffanás Vater gießt sich eine große Tasse Kaffee ein.
„Beffaná, Du auch?“
„Tee, bitte. Bleib sitzen, ich mach ihn mir schon selbst. Papa, sag ihm, dass er mir den Zettel wiedergibt!“
„L-I-E-B-E J-O-S-H-U-A!“ kräht Jacob. „Beffaná ist verliebt!“
„Was ist das für ein Zettel?“ fragt ihr Vater.
„Ein Liebesbrief!“ Jacob ist nicht zu bremsen.
„Joshua aus meiner Klasse hat gefragt, ob ich mit ins Kino will. So ein Zettel ist das“, murmelt Beffaná.
„Verstehe“, sagt ihr Vater. Er streicht sich durch den Vollbart.
Er sieht wirklich müde aus, denkt Beffaná.
„Nein, verstehst du nicht“, sagt sie. „Es ist nur Kino.“
„Welcher Film?“ fragt Jacob.
„Welcher Film?“
„Welcher Film, welcher Film?!“
„Ich weiß nicht, welcher Film!“
„Man geht doch nicht ins Kino, ohne zu wissen, in welchen Film!“ kräht Jacob. „Du brauchst beim Bäcker 5 Minuten, um Dir das richtige Croissant auszusuchen!“
„Hat er Recht.“ grinst ihr Vater.
„James Bond!“
Beffanás Vater rollt mit den Augen.
„Ich beginne Jacob zuzustimmen.“
„Und guck mal, Papa! Hier, das steht dein Name drauf!“
Jacob holt das Buch unter dem Tisch hervor, das Buch aus der Wohnung von Frau Schniggenfittich. „Kaitus, der Zauberer“.
„Wo hast du das her, Jacob?“
„Aus Beffanás Tasche!“
„Woher, Beffaná?“
Seine Stimme klingt ungewöhnlich scharf. Das ist mehr als nur Müdigkeit.
„Frau Schniggenfittich. Woher hat die ein Foto von euch? Mit ihr selbst in der Mitte zwischen euch?“
Nicht über das Buch reden, denkt sie. Zumindest nicht, wie genau sie zu dem Buch gekommen ist.
„Was meinst du mit ‚Foto von euch‘?“ fragt ihr Vater. Doch er kennt die Antwort. Sie hört es an seiner Stimme.
„Und wo warst du gestern Abend?“ bohrt Beffaná weiter. Sie kennt die Tricks. Am besten immer selbst zum Angriff übergehen. Besser selber bohren, als durchbohrt zu werden.
Ihr Vater schaut sie an. Ernst, irritiert, dann traurig. Auf die Art traurig, die Beffaná gar nicht mag. Auf die Art, dass sie ihm alles erzählen und ihn nur wieder fröhlich machen möchte.
„Beffaná, du weißt doch, wo ich war. Ich brauche manchmal Zeit. Ich geh Spazieren. Das ist alles.“
„Ja, okay. Ich mein‘ nur…“
„was meinst du, Beffaná?“
„Ich mein‘ nur, Jacob war allein zuhause, und ich bin erst spät aus der Schule heimgekommen. Das ist nicht in Ordnung!“
„Ich hab Verstecken gespielt“, sagt Jacob.
„Mit dir selbst?“
„Nein, mit dem Spiegel! 5 Minuten hab ich ich’s geschafft!“
„Lass uns heute Abend reden“, sagt ihr Vater. „Über alles. Ihr müsst jetzt zur Schule. Komm Jacob, ich fahr dich… Jacob? Wo ist er jetzt schon wieder hin?“
Manchmal verschwindet Jacob einfach.
„Bin schon angezogen!“ kräht der von der Garderobe her. „Ich will vorne sitzen!“
„Im Traum vielleicht“, murmelt Beffanás Vater. Dann steht er auf und zwinkert ihr zu. „Bis heute Abend, Große.“

Sie braucht ein paar Minuten, um ihre Tasche zu packen. Zu lang, um mit Jacob und ihrem Vater zusammen runter zu gehen. Erst im Treppenhaus beschleicht sie ein ungutes Gefühl. Frau Schniggenfittich, hoffentlich lauert die nicht wieder hinter ihrer Tür. Der Fahrstuhl ist immer noch defekt. Aber es gibt einen Ausweg. Beffaná steigt aufs Treppengeländer. Früher hat sie das andauernd gemacht. Warum auch nicht? Jetzt ist sie sogar noch schneller! An Frau Schniggenfittichs Wohnung ist sie so schnell vorbei, dass sie gar nicht weiter drüber nachdenken kann. Aber was war das gerade? War das nicht ein Bellen? Kann nicht sein. Frau Schniggenfittich hat keinen Hund. Hätte sie ja spätestens gestern bemerkt. Und die aus dem Dritten haben auch keinen, das ist Tessas WG und die hat Allergie. Gegen alles, irgendwie. Aber da hört sie es wieder. Ein Bellen. ganz klar. Beffana ist am Sims der Treppe im Eingangsflur angekommen. Gerade klebt ein Mechaniker Absperrband vor den Fahrstuhl. Na toll, das dauert wieder mindestens einen Monat, denkt Beffaná, als sie das Haus verlässt.

Zum Glück ist der Bus pünktlich. Aber er ist voll. Und sie muss stehen. Eigentlich wollte Beffaná sich das Buch genauer ansehen. Es ist wohl ein Kinderbuch. Über einen Jungen, der nur Unsinn im Kopf hat und sich auf irgendeine Art das Zaubern beibringt. Beffaná hat gestern nur den Klappentext und die ersten paar Seiten gelesen. Fast schläft sie im Stehen ein, aber drei Haltestellen, bevor sie umsteigen muss, sieht sie draußen auf dem Bürgersteig etwas, das sie stutzig macht. Ist das ein Fuchs, dort? Wahrscheinlich eher ein Hund, aber ein rotbrauner, und genauso groß, wie Beffaná sich einen Fuchs vorstellt. Sie hat noch nie einen Fuchs in echt gesehen. Er trabt kurz auf dem Gehsteig im strömenden Regen neben dem Bus her, doch dann, an einer großen Kreuzung, verliert Beffaná ihn aus dem Blick. Heute ist ein kurzer Schultag. Außerdem fast nur Vertretungsstunden. Und Joshua. Eigentlich hat Jacob Recht, oder? Was ist denn das für eine Frage, ‚ins Kino‘? Was heißt denn hier ‚Ins Kino‘? Welcher Film? Wer bezahlt? Ist das eine Verabredung? Eine Einladung? Ein Date? Will er eine Wette gewinnen? Oder steht er einfach auf Filme, die kein Kumpel mit ihm gucken will? Vielleicht ist er ja schwul. Wahrscheinlich sogar, eigentlich sieht Joshua viel zu gut aus, um nicht schwul zu sein. Aber was geht’s mich überhaupt an?
„Kindchen, entweder du kommst selbst in die Hufen, oder ich nehm‘ dich Huckepack!“
Was? Moment! Beffaná schrickt aus ihren Gedanken auf.
Die Busfahrerin steht mit verschränkten Armen vor ihr und schüttelt ihren Kopf. Die Frau ist riesig, mindestens Eins Neunzig groß, breit wie ein Kleiderschrank und hat beeindruckende Segelohren.
„Aufwachen, Lady! Endstation!“
„Endstation?“
„Aber sowas von. Noch drei Meter weiter, den Hügel rauf und Du kannst den Arsch der Welt besichtigen.“
Nicht das noch. Sie hat den Umstieg verpasst. Um fünfzehn Stationen oder so!
„Wann geht denn der nächste zurück?“
„Na, immer um halb und um voll. Du musst hier trotzdem raus, ich darf keinen drinlassen, wenn ich abschließe.“
„Aber es regnet und ist kalt…“
„Und ich muss trotzdem pinkeln. Raus mit dir. Dahinten gibt’s ’nen Unterstand, siehst du?“
„So ein Mist! Aber, ja, danke…“
„Bin in zehn Minuten wieder da. Willst’n Kaffee haben? Ich geb einen aus.“
„Das wär toll, danke.“
Sie steigen beide aus dem Bus und die Fahrerin schenkt Beffaná Kaffee aus ihrer Isolierkanne ein.
„Setzt dich da hinten auf die Bank im Unterstand“, sagt sie. „Und Kopf hoch, is‘ doch nicht weiter schlimm. Was verpasst du denn gerade. Schule, oder?“
„Erdkunde.“
„Erdkunde, was. Also, gut, Erdkunde. Das hier Schätzchen“, sagt die Busfahrerin und macht mit ihrem rechten Arm einen großen Halbkreis um sich herum, „Das is’n Wald. Bäume, Pfützen, noch mehr Bäume und… schau an, hast du echt Glück heute, und’n Fuchs. Is ja richtig idyllisch hier, heute. Wenn’de Schiss kriegst, ich bin auf’m Klo.“
Die Busfahrerin drückt Beffaná Tasse und Kanne in die Hand und stapft davon in Richtung eines Wellblechverschlags und schlägt die Tür hinter sich zu. Doch Beffaná achtet gar nicht mehr auf sie. Sie starrt auf den Fuchs, der am Waldrand steht und zu ihr herüber schaut.
Es ist ohne Zweifel der Fuchs von eben in der Stadt. Wie hat er das gemacht? Er muss wie der Teufel gerannt sein. Kurz dreht er sich um, als wolle er in Richtung Wald verschwinden, dann schaut er wieder zu Beffaná und bellt ein paarmal. Wieder bleibt er stehen. Beffaná kneift die Augen zusammen. Sie ist sich ziemlich sicher, dass er ein Halsband trägt. Gibt es sowas, bellende Füchse mit Halsbändern? Eher nicht. Also ist es ein Hund. Wieder schwenkt der seinen Kopf in Richtung Wald und bellt.
„Was willst du?“ ruft Beffaná. „Ich hab nix zu fressen! Außer, du magst Kaffee!“
Der Fuchs/Hund starrt zu ihr herüber. Beffaná ist kalt, sie nimmt einen tiefen Schluck aus dem Kaffeebecher. Gar nicht mal schlecht, denkt sie. Aber Kräutertee ist trotzdem besser. Sie hält die Tasse vor sich hin:
„Ich hab nur Kaffee! Also was jetzt?“
Der Hund zögert, dann trabt er auf sie zu. Beffaná hat keine Angst. Er ist nicht groß, sie könnte locker mit ihm fertig werden. Als er bei ihr angekommen ist, setzt er sich vor sie hin und wartet.
„Potzblitz, willst wohl gestreichelt werden,“ sagt Beffaná und krault den Hund vorsichtig hinter den Ohren.
Der Hund schaut sie an.
„Jedenfalls besser, als im Regen rumzustehen. Jetzt schnapp Deine Sachen und komm endlich mit. Und vergiss den Kaffee nicht, den wird er mögen.“

Beffaná (St. 5, Kap. 2): Abwege
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