Liebe Hörenden der achten Staffel von der Weihnachtshexe Beffaná. Im letzten Jahr haben wir die Geschichte gehört, wie Beffaná als sehr alte Hexe in den Zoo umzieht. Und in den Jahren davor haben wir eine Menge darüber gelernt, wie Beffaná eine Weihnachtshexe geworden ist. Wir haben gehört, was für Wesen sie dabei getroffen hat und wie sie einmal sogar ins Weltall geflogen ist, um äußerst seltsamen Kreaturen weit entfernt von der Erde zu begegnen. 

Die achte Staffel in diesem Jahr spielt in der Zeit dazwischen. Beffaná ist keine junge Hexe mehr, aber auch noch nicht furchtbar alt. Sie hat schon vielen seltsamen Gestalten die sonderbarsten Geschenke gemacht und hat schon viele Freunde gefunden, die ihr bei ihrer Aufgabe helfen. Und genau hier steigen wir dieses Jahr ein. Viel Spaß und eine schöne Adventszeit. 

Freitag, 1. Dezember: Die schwarze Tür

Hinter der schwarzen Tür soll Sinas neues Leben beginnen.

Auf der anderen Seite hört sie das Gemurmel von Stimmen, einen Ruf, aufgekratztes Lachen.

Na los. Einfach klopfen, kurz abwarten, Tür öffnen, der Rest findet sich…

Was, wenn niemand ihr Klopfen hört? Wie lange soll sie warten? Oder geht sie einfach hinein?

Langsam hebt sie ihre linke Hand. Das Gemurmel drinnen schwillt an. Ein heiseres „Bitte! Genug jetzt!“ Getuschel, Kichern, dann Ruhe.

Kein guter Zeitpunkt. Er hat sie gerade im Griff. Er fürchtet weitere Störungen. Er ist unsicher. Genau wie sie. Sie sollte jetzt nicht stören.

Sina lässt die Hand sinken. Unter ihrem Verband schauen nur die Finger heraus. Er ist schwarz, so wie die Tür, und fest gewickelt. Die Finger dagegen: Weiß und kalt. Ist der Verband fest genug? Sie hat es kontrolliert, viel zu häufig. Aber einmal mehr schadet nicht. Ja, fest genug.

Die Klassentür ist breit und ziemlich hoch. Schwarz gestrichenes Metall, an vielen Stellen gibt es Reste von Aufklebern, Kratzer, unverständliche Kritzeleien.  

Wie in ihrer alten Schule.

Nur ist diese Tür wie eine Wand. Außer dem Lehrer hört Sina fast niemand anderen. Einige vage Gefühle: Langeweile, Müdigkeit, Konzentration. Vielleicht Sehnsucht. Ja, das ist ihr Ding: Gefühle erraten. Manchmal ist sie überzeugt, Emotionen lesen zu können. Wahrscheinlich Blödsinn, doch Sina versucht es immer wieder, selbst durch diese schwarze Tür. Jemand denkt an früher. Kindheit, Jugend, unbeschwertes Lachen, Geborgenheit.

Bist du das, Lehrer? Hast du den richtigen Job? Bist du neu? Warum quälst du dich so?

Nicht mein Problem! 

Nicht meine Verantwortung!

Not my fucking problem!

Focus, Sina!

Neben der Tür stehen drei Stühle. Sina setzt sich in die Mitte und schließt die Augen. 

Denk an den verdammten Gipskarton, ermahnt sie sich. Ihre erste Therapeutin hat gesagt, sie soll sich in solchen Situationen auf Belanglosigkeiten konzentrieren. Sehr bekannte, sehr langweilige Dinge. Okay: Einkaufen im Baumarkt mit ihren Eltern. Sinas Rückzugsort ist Regal 55: Trockenbau – Platten, Schienen, Gipskarton. Manchmal ist sie stundenlang da. Es ist furchtbar langweilig.

Sina horcht: Auf der anderen Seite der Tür ist alles ruhig.

Die Therapeutin war eine Katastrophe. Gipskarton war das Highlight. Der Rest… Da war viel Chaos und die verzweifelte Suche nach Struktur. Nicht gut für eine Therapeutin. Nur Gipskarton hat geholfen. Hallo Sina, setz dich doch, wie fühlst du dich heute? Gipskarton, Gipskarton, Gipskarton, Gipskarton, GIPSKARTON!!!! Gut, Sina. Dann bis zum nächsten  Mal.

Sie schaut auf den Zettel, den ihr die Direktorin gegeben hat: 

– Führung durch die Schule

– Vorstellung in der Klasse

– Ausgabe der Bücher

– Gemeinsames Mittagessen 

– Vorstellung der Nachmittagsaktivitäten

– Führung durch die Stadt Krahlheim

– Zeit zur freien Verfügung

– Gemeinsames Abendessen

– Nachtruhe 

Nachtruhe? Niemals wird sie schlafen können. Sina schläft schon seit Wochen nicht mehr richtig. Zu wem wird sie wohl auf’s Zimmer kommen? Die Direktorin hat gesagt, dass sie anfangs vielleicht ein Einzelzimmer bekommt, bis die Details geklärt sind. 

Welche Details?

Hinter dem Zettel steckt ihre selbstgeschriebene Karteikarte. Sie hat sie zur Vorbereitung geschrieben und sie ist FFA: Furchtbar Fucking Armselig.

Mein Name ist Sina. Ich bin 15 Jahre alt. Ich freue mich euch alle kennenzulernen und ich bin sehr gespannt auf meine Zeit hier in Krahenstein. Ich mag…

 Ja, was? 

Lesen, schwimmen, Radfahren??? Was auch immer da stand, es ist hundert mal durchgestrichen. Geblieben sind Lesen und Musikhören, beliebiger Quatsch, den jedes fünfzehnjährige Mädchen auf der Welt schreiben würde.

Ende der Karteikarte. 

Was sie nicht schreiben konnte:

Mein Name ist Sina. Ich bin 15 Jahre alt. Vor einem halben Jahr begann ich zu schlafwandeln und Stimmen zu hören. Ich war in Behandlung bei teilweise sehr seltsamen Menschen. Bis mir auffiel, dass die fremden Stimmen einfach die Gedanken der Menschen um mich herum sind. Eigentlich sind es weniger Stimmen als Gefühle. Ich denke, meine Eltern glaubten mir nicht, bis das mit meinen Armen anfing. Sie bekamen Löcher. Echte Löcher, so wie ein riesiger Käse. Erst nur die Arme, später die Beine, und wer weiß was noch kommt… Seit der Sache mit den Löchern hatte ich die ungeteilte Aufmerksamkeit meiner Eltern. Wir waren praktisch schon auf dem Weg in die Notaufnahme, als ich ihnen etwas sehr Wichtiges klarmachen konnte: Die Löcher, also das, was mir fehlt – es ist nicht weg. Es ist nur unsichtbar. Ich kann es spüren. Ich kann zwar einen Bleistift durch meinen rechten Unterarm stecken. Aber ich spüre ihn. Er fühlt sich kalt an. Das ist keine Krankheit. Das ist nicht normal unnormal. Nichts für Ärztinnen und Therapeuten. Das ist next level shit. Es ist – keine Ahnung – Hexerei.

„Was liest du da?“

Rechts neben Sina sitzt eine Frau. Ihre Augen funkeln, die roten Haare leuchten. 

Die Frau ist schlank und recht groß. Größer als Sina. Sie trägt grüne und erdfarbene Strickkleidung. Es ist schwer, ihr Alter zu schätzen. Sie könnte 40 sein oder 70. Die wilden, roten Haare sind nicht gefärbt, also eher 40 als 70. Sie trägt eine Nickelbrille und hat darunter an der Nasenwurzel eine dunkle Warze. Strange. Seltsamerweise steht sie ihr ganz gut.

Hat sie sie angestarrt? Sina schaut weg. Sie spürt nichts. Sie hört keine innere Stimme. Zum ersten mal seit Wochen. Es ist so, als wäre die Frau gar nicht da.

„Waaaaas liiiiiiiiest du da?“ Die rothaarige Frau fuchtelt mit den Händen vor Sinas Augen herum. 

„Das, äh… das ist mein Tagesplan“. 

„Und du bist gerade beim Punkt ‚Im Keller rumsitzen und auf den Tagesplan starren‘ ?“

„Nein, ich, äh, ich warte. Auf den richtigen Zeitpunkt.“

„Ah, ja!“ ruft die Frau. „Der richtige Zeitpunkt! Sehr wichtig, nicht wahr? Was ist heute für ein Tag? Freitag, richtig? Lass mich nachdenken. Oh ich verstehe! Der Herr Niederlage ist da drin, hinter der Tür! Der Arme! Ja, das könnte tatsächlich schwer werden. Vielleicht… vielleicht, vielleicht… versuchst du es besser… Wie spät ist es?

Sina kramt ihr Handy heraus.

„Gleich halb zehn.“

„Dann versuch es besser mal um elf. In… in, in… ungefähr drei Jahren. Ja. Das sollte funktionieren. Bei mir hat’s zwei Jahre gedauert bis ich alles im Griff hatte. Aber, unter uns…“ sie rückt näher an Sina heran „… ich bin GUT. Ziemlich, ZIEMLICH gut! Der Herr Niederlage ist… Ich würde mal sagen: Unterer Durchschnitt. Viel Luft nach oben, du verstehst?“

„Unterrichten Sie auch in dieser Klasse? Das ist nämlich meine. Ab heute. Ich bin Sina.“

„Ach, Kindchen…“ sagt die Frau und steht auf. „UNTERRICHTEN ist ein großes Wort. Ein SEHR großes Wort. Weißt du, es gibt Leute, die besuchen jahrelang eine Universität, damit sie UNTERRICHTEN dürfen. Kann ich mir im Traum nicht vorstellen! 

Ich würde sagen, ich SCHNEIE, du verstehst? Von Zeit zu Zeit schneie ich. Am liebsten herein. Und wenn ich Zeit und jemand Lust hat, ja dann kann man das manchmal vielleicht in ausgewählten Einzelfällen ein bisschen UNTERRICHTEN nennen. Meistens ist es aber bloß Ringelpietz. Und in der Zwischenzeit mopse mir hier und da ein Pausenbrot.“

Pfeifend und mit einem Schulterklopfen für Sina entfernt sich die Frau in Richtung Treppenhaus.

„Darf ich fragen, wer sie sind?“ ruft Sina. 

„Oh ja, natürlich darfst du das! Merk dir eins, Sina! Du darfst viel mehr, als du dir vorstellst!“ Dann ist sie im Treppenhaus verschwunden.  

Sina starrt der Frau hinterher. 

„What the…?“ 

Irgendwo oben fällt eine Tür ins Schloss. Dann ist es wieder still. Auch aus dem Klassenraum hinter der Tür ist nichts zu hören. Ist jetzt wohl ein guter Zeitpunkt? 

Ist der Lehrer jetzt… Ah, da ist sein Herzschlag. Immer noch etwas beschleunigt. Aber ruhiger als vorher. Gut, dass ich gewartet habe, Herr Niederlage. Brauchst du noch 2 Minuten?

Wieder blickt Sina auf die Papiere. Der Tagesplan, ihre Karteikarte.

„Da wirst du nichts finden, was dir weiter hilft.“

Erschrocken lässt Sina die Zettel fallen und stößt einen spitzen Schrei aus. Neben ihr sitzt wieder die rothaarige Frau. Sie kaut laut schmatzend, in der Hand hält sie ein Käsebrot. 

„Wer schmiert die Brote bei Dir zuhause? Vati, Mutti, Opi, Omi? Wer auch immer diese Wunderwerke der Klappstullengeschichte zaubert: Richte meinen Dank und meine Hochachtung aus, du gutes Kind!“

„Sie haben mich zu Tode erschreckt!“

„Wie konnte ich wissen, dass du noch hier bist? War meine Ansprache nicht überzeugend genug? Dachte, du bist längst da drinnen bei Herrn Niederlage und seinen Rackern!“

„Wie kommen Sie hier her? Ich habe Sie weggehen sehen! Ich habe nichts, ich habe Sie nicht…“

„Gefühlt, nicht wahr? Nein nein, das hast du nicht, aber das ist kaum meine Schuld, ich mache das schließlich nicht mit Absicht.“

„Das Brot! Sie haben es gestohlen! Ich erkenne es wieder, mein Vater hat es mir heute morgen zum Abschied gegeben und es ist seins, das weiß ich genau! Ich sehe, wie es geschnitten ist. In zwei Dreiecken mit einer Wellenkante!“

„Sehr lecker, aber sag mal: Eine Wellenkante?Etwas dick aufgetragen, findest du nicht?“

„Vor allem ist es Diebstahl. Und Ihren Namen haben Sie mir auch nicht gesagt. Das ist ehrlich gesagt ziemlich unhöflich!“

„Ja, das ist wohl nicht von der Hand zu weisen. Trotzdem, liebe Sina: Du konzentrierst dich freilich auf höchst kleinteiligen Firlefanz! Die offensichtliche Frage lautet doch: Warum sitzt du hier, auf der definitiv falschen Seite einer höchst ärgerlichen Tür? Du solltest auf der anderen Seite sitzen! Warum ist ein so höfliches Ding so außerordentlich dumm?“      

„Ich bin rücksichtsvoll, das ist ja wohl nichts Schlechtes! Und ja, ich habe Angst davor, was mich erwartet! Weil in den letzten Monaten mein ganzes Leben zu Bruch gegangen ist! Weil Menschen, die vielleicht mal meine Freunde waren, einfach nicht mehr da sind! Und weil Dinge mit mir passieren, die ich nicht erklären kann. Die niemand erklären kann!“

Sinas letzte Worte verhallen im Flur. Sie hat gar nicht gemerkt, wie laut sie geworden ist. Die Frau ihr gegenüber sagt kein Wort. Sie kaut gründlich ihr Brot zu Ende, überreicht Sina die leere Brotdose und steht auf. 

„Das war nicht schlecht für den ersten Tag“, sagt sie. „Ich werde jetzt gehen und ich verspreche, dass ich dich nicht noch einmal nerve. Eine Sache noch: Wenn dich das, was du spürst und das, was du nicht spürst, wenn dich all das Neue so verwirrt: Dann ignorier’s doch einfach. Und konzentrier dich auf das, was du immer gut konntest: Sehen, hören, riechen… Verstehst du? 

Stark unterschätzt, wenn du mich fragst. Fang mit dem Sehen an, und wenn du bereit bist, dann öffne diese Tür! Leichter als Herr Niederlage wird’s nicht mehr, Schätzchen. Er hat mehr Angst vor Dir, als Du vor ihm.“

„Es geht nicht um Angst, es…“ Doch die Frau unterbricht sie. „Ich schulde dir noch meinen Namen: Grimm. Beffaná Grimm. Bis bald“

Und dann, ganz plötzlich, ist sie verschwunden.

Sina starrt auf den leeren Stuhl und dann auf die Tür. Was soll man davon halten…? In einem hat Grimm recht: Sie muss da jetzt rein. Es wird immer einen Grund geben, die Sache hinauszuzögern. Und zu verlieren hat Sina eigentlich nichts mehr. Was aber hat Grimm damit gemeint: Fang mit dem Sehen an…?

Hier ist nichts anderes zu sehen als die schwarze Tür. Okay. Eine schwarz gestrichene Klassentür. Mit Resten von Aufklebern, Kratzern, unverständlichen Kritzeleien. Wie an jeder Schule wird es arme Hausmeister*innen oder Putzkräfte geben, die regelmäßig dafür sorgen müssen, dass die Türen einigermaßen sauber bleiben. Die besonders obszönen Bilder, die besonders fiesen Sprüche waren an Sinas alter Schule alle paar Wochen entfernt worden. Hier ist es wohl ähnlich. Bis auf einige sehr hartnäckige Klebereste und ein paar frische Kritzeleien ist alles entfernt. Ganz unten an der Tür hat jemand etwas geschrieben in sehr kleiner, feiner Schrift. Sina versucht es zu erkennen. Keine Chance. Sie steht auf und hockt sich direkt vor die Stelle. Wer hat eine so feine Schrift? Erst als Sina sich auf den Boden direkt vor die Türschwelle legt, kann sie die Buchstaben entziffern:

Schön dass Du endlich da bist. Ich freue mich, Dich kennenzulernen. Deine Kess

Eine ganze Weile liegt Sina vor der Türschwelle und liest die Botschaft. Immer und immer wieder. Schön dass Du da bist. Schließlich steht sie auf, holt tief Luft, klopft einmal laut und öffnet die Tür.