Samstag, 9. Dezember: Hunger

Der Wind weht eisig kalt durch die leeren Gassen von Krahlheim. Sina hat den Mantelkragen hochgestellt und eilt in Richtung der Bergstraße die nach Krahenstein führt. Die meisten Geschäfte haben bereits geschlossen, nur eine schlampig aufgehängte Lichterkette über der Tankstelle vor dem Ortsausgangsschild blinkt zaghaft in den Abend. Vor der Autowaschanlage glimmt ein rot-orangenes Leuchten auf und eine weiße Wolke wird vom Wind in die Büsche getrieben. Jemand ruft etwas. Sina bleibt stehen.

„Hallo?“

„Sina!“

Die Person hinter der Glut macht keinerlei Anstalten, zu ihr auf die Straße zu kommen. Sina betritt den Hof der Tankstelle. Es riecht nach Benzin und Zigaretten.

„Becca, bist du das?“

Mit Becca aus ihrer Klasse hat Sina bisher wenig Kontakt gehabt. Sie weiß, dass Ana ein Zimmer mit ihr teilt. Zusammen mit Ola und Odette. Becca hat nie den Einruck gemacht, als sei sie sonderlich an Sina interessiert. Meist hängt sie mit Odette herum, jetzt allerdings scheint sie allein zu sein. 

Becca ist dünn und eher klein, hat lange, schwarze Haare mit grau-weiß gefärbten Strähnen, die sie offen über obskuren Band-T-Shirts trägt, von denen Sina noch nie etwas gehört hat. 

Heute Abend ist Becca in einen schwarzen, langen Mantel gehüllt. Sie steht vor der Waschanlagenausfahrt und raucht. Der beißende Qualm ist unangenehm, doch von Becca selbst empfängt Sina keine Ablehnung. Es ist… eher Neugier. Bisher war es schwer für Sina, Becca aus dem Rest der Klasse einzeln herauszuspüren, jetzt aber steht sie allein vor ihr. 

„Was machst du hier, Sina?“

„Einkaufen. Tee, Brot, Humus, Chips und Schokocreme. Das Zeug im Gemeinschaftsraum ertrage ich nicht mehr.“

„Ich hoffe, du isst das nicht alles zusammen!“ Becca lacht. „Willst du?“ Sie hält Sina ihre Zigarettenschachtel hin.

„Nee, danke. Ist nicht meine Droge.“

„Was dann?“

Sina schweigt. Ein bisschen Normalität wäre gut. Keine Verbände mehr. Nicht mehr müde sein. 

„Schlafen“, sagt sie. 

„Hab schon gehört. Deine Nächte, laufen nicht gut, oder?“

„Nein. Dieses Ding mit dem Schlafwandeln ist… herausfordernd. Sagt man doch so, oder? Außerdem hab ich das Gefühl, dass das hier…“ Sina hält ihre bandagierten Handknöchel hoch „…schlimmer wird, je länger ich am Stück schlafe.“

„Und wenn du trotzdem schläfst und es zulässt?“

„Und dann ganz unsichtbar werde?!“

„Ist das so schlecht? Hab ich mir als Kind oft gewünscht.“

„Davon  geht das Schlafwandeln aber nicht weg.“

„Aber wenn du unsichtbar bist, ist es doch egal, was du tust. Stört ja keinen.“

Hm. So hat Sina noch nie darüber nachgedacht. 

„Wenn ich nachts die Treppe runterfalle, ist es trotzdem blöd. Findet mich da niemand.“

„Guter Punkt.“

Becca wirft ihre Zigarette ins Gebüsch.

„Kommst du mit hoch? Sonst sind wir zu spät oben… Du kannst dich wegen des Schlafwandelns ja im Zimmer einschließen lassen. Machen wir auch so.“

„Einschließen? Was… ähm… bist du denn? Ist es okay, wenn ich frage? Ich weiß, ist gegen die Regeln…“

„Ja. Das hier ist auch gegen die Regeln.“ 

Becca stoppt kurz, hält ihre Hände schützend vor den Mund und zündet sich eine neue Zigarette an. 

„Sag Bescheid, wenn jemand kommt, okay? Ich muss nicht dringend erwischt werden. Wäre nicht das erste Mal… Ich bin eine Ghula.“

„Nie gehört. Was ist das?“

„Ich bin eine von den Langweiligen hier. Alles ganz normal. Nur nachts hab ich Hunger auf Menschen.“

„Ürg! Das ist… äh… nicht gut, oder?“

„Ist auf jeden Fall besser, mich einzuschließen.“

„Und was isst du dann? Wie regelst du das mit den anderen im deinem Zimmer?“

 „Über Ana und Odette spreche ich nicht. Sagen wir so: Die fallen nicht ins Beuteschema…“

‚Stimmt‘, denkt Sina. ‚Ana ist eine Zombie, das ist garantiert nicht lecker. Und Odette? Keine Ahnung. Von ihr weiß sie genau so wenig wie über Becca.‘

„Was das Essen angeht, es gibt Ersatzprodukte. Frag nicht. Döpfner regelt das. Ich sag mal so: Nicht alle Essenslieferungen in die Schule enthalten nur Eier und Gemüse.“

Sina denkt an den Gemüsekiste-Lieferwagen, den sie letztens aus Döpfners Bürofenster gesehen hat. Was das wohl bedeutet: Ersatzprodukte… Kann ja nicht einfach normales Fleisch sein. Ob Zombies und Ghulas wohl was Ähnliches kriegen? Okay. Ist vielleicht besser, nicht drüber nachzudenken. Aber eine andere Sache beschäftigt Sina dann doch:

„Ist jetzt nicht auch schon… Nacht? Es ist… dunkel. Also, hast du schon…“

„Hunger? Sina. Schau mich an. Ich habe immer Hunger.“

Becca weißt auf ihren mageren Körper und lächelt diabolisch. Dann nimmt sie einen Zug von ihrer Zigarette und tritt einen Schritt näher an Sina heran.

„Aber ich kann mich zügeln. Rauchen hilft. Außerdem wird’s im Winter erst nach zehn Uhr richtig schlimm.“ 

Sie schaut auf ihre Uhr.

„Keine Sorge. Fünfzehn Minuten haben wir noch.“

Sie holt eine weitere Zigarette aus der Schachtel und zündet sie an ihrem noch glühenden Zigarettenstummel an. Der Wind ist inzwischen stärker geworden und weht ihnen eisig ins Gesicht. 

Nordwind, denkt Sina, es riecht nach neuem Schnee. Sie zittert leicht  und zieht ihren Mantelkragen hoch. Sie laufen neben der Autostraße den Berg hoch nach Krahenstein. 

Im Dunkeln ist die Abkürzung durch den Wald keine besonders gute Idee, wenn man sich nicht alles brechen möchte. Die schmale Mondsichel steht gut sichtbar über Krahenstein. Viele leuchtende Vierecke strahlen vom Neubau aus in den späten Abend, während der Altbau im Dunkeln liegt.

„Was hast du unten gemacht?“, fragt Sina. „Zigaretten kaufen?“

Becca senkt ihre Stimme. 

„Wir sind Dr. Sieg hinterher.“

„Wir?“

„Odette und ich.“

„Am Wochenende! Im Ernst, da würd ich eher Fußball gucken, als Lehrern hinterher zu laufen!“

„Ist eine Art Game. Odette hat einen crush auf ihn…“

„AUF NIEDERLAGE?!“

„Das ist ein fieser Name, Sina. Er strengt sich doch wirklich an!“

„Wir strengen uns alle an, Becca. Und trotzdem ist das Leben gemein zu uns.“

„Aber Nieder… Dr. Sieg ist ein Normalo und kümmert sich wirklich herzzerreißend! Nicht sehr erfolgreich, klar. Aber total süüüüß!“

„Und wo ist Odette jetzt?“

„Die folgt ihm noch. Nur für mich wird’s zeitlich ein bisschen kritisch. Ich muss hoch ins Zimmer.“

„Das heißt, die ist unten alleine? Am Samstagabend im Dunkeln um kurz vor zehn? Wie alt ist Odette? Die ist doch jünger als wir! Müssen wir nicht auf sie warten?“

„Sie ist zwölf. Aber sie ist ein Poltergeist, Sina. WIRD ein Poltergeist. Glaub mir: Wer auch immer sie heute Abend belästig, hat ein RICHTIGES Problem.“

„Jetzt hast du’s doch getan. Über ihr doom gesprochen.“

„Ja. Fuck. Aber Aber ich hab keine Einzelheiten erzählt, oder?“

„Alter. Poltergeist…! Kein Wunder, dass du keinen Hunger auf sie hast.“

„Es ist ein Wunder, dass ich keine Angst vor ihr habe, wenn wir im Zimmer eingeschlossen sind! … Ist auch nicht die ganze Wahrheit. Manchmal hab ich eine Scheißangst.“

„Und sie beschattet jetzt Niederlage? Der größte Loser der Schule wird von einem Poltergeist verfolgt?“

„Hab ich so noch nicht betrachtet, aber:  Ja, genau so ist es.“

„Oh Mann, der Arme. Ich hoffe, ihr crush auf ihn verhindert, dass sie ihn erschreckt.“

„Ich denke, so läuft das nicht bei Poltergeistern. Eher so… im Gegenteil.“

Sina stellt sich Niederlage in einer dunklen Gasse zusammen mit der Jung-Poltergeist-Odette vor, die ihre Gefühle für ihn nicht im Griff hat…

Nicht mein Problem. Fokus, Sina.

„Los, wir müssen weiter. Du solltest vor zehn im Zimmer sein. Außerdem endet der Ausgang gleich… Fuck, Odette ist doch unter Garantie um zehn nicht wieder da!“

Sina, sie kommt zurecht! Auch wenn sie in einen Lehrer verknallt ist, und vielleicht zu spät kommt. Sie ist ein verdammtes Gruselmonster!

Eine Weile gehen sie schweigend nebeneinander her. Dann schaut Becca sie von der Seite an.

„Was ist denn mit deiner heimlichen Liebe, Sina?“

„Was meinst du? Ich hab Emil nicht gebeten, die Alien-Zimmer für mich zu verwüsten. Wenn er in mich verliebt ist, dann ist das seine Sache, nicht meine!“

Heute Vormittag war die Sache DAS Gesprächsthema im Gemeinschaftsraum. Emil, der als Heinzelmann offenbar in jedes Zimmer hineinkommt,  hatte gestern mehrere Apartements im Neubau nach Strich und Faden in ihre Einzelteile zerlegt, weil ein paar hochnäsige Alien  Sina auf dem Schulhof belästigt hatten. Nachdem er Döpfner seine Liebe zu Sina gestanden hatte, hatte die Direktorin die ganze Sache auf mysteriösen Vandalismus von externen Idioten geschoben und für viel Geld die Schlösser im Neubau austauschen lassen. Für viel Alien-Geld, versteht sich.

‚Döpfner mag ein Arsch sein, aber sie hat ihre Vorzüge‘, denkt Sina. Becca schüttelt den Kopf. 

„Nicht Emil. Ich meine die andere Liebe, Sina. Ich meine Ovid.“

„Ich bin nicht…!“

„Ist mir egal, was du bist! Verstehst du? Es ist mir egal, WAS du bist! Aber das ist überhaupt nicht egal, falls du und Ovid… mehr Zeit verbringen wollt. Und so. Kapiert? Überleg es dir und vor allem: Sprecht darüber: Es gibt dooms , die passen zueinander. Und es gibt welche, die passen gar nicht. Ja, ihr könnt gerne Romeo und Julia spielen. Aber guck dir vorher noch mal das Ende an, Sina. Das kann wirklich übel werden. Und so ein doom, das kannst du nicht einfach ablegen wie einen alten Wintermantel. Ich kenne niemanden, keinen einzigen, der…“’

Doch sie unterbricht.

Neben ihr ist Sina in der letzten Biegung vor der Einfahrt nach Krahenstein stehengeblieben und zeigt nach oben. 

„WAS ZUM TEUFEL IST DAS?“

„Ich sehe nichts, Sina! Und ich will weiß der Himmel nicht drängeln oder so, aber es ist gleich zehn und du siehst mit jeder Sekunde leckerer aus.“

„Da! Hörst du das nicht!“

„Ich höre nur den Wind.“

„Ja, aber da ist auch eine Stimme. Und eben, hinter uns,…Da!“

Sina ist sich jetzt ganz sicher. Im Himmel über den Lichtern von Krahlheim verdunkelt eine kleine, schnelle Gestalt einige der Lichter. Sie kommt aus Richtung der Stadt und fliegt genau auf sie zu. Außer dem Wind hört Sina dieses Geräusch. Es ist wie ein Heulen, nein, eher ein Jubeln. Und dann fühlt sie es. Aufregung, eine Prise Angst, vor allem aber Euphorie und das Wissen, wirklich angekommen zu sein. So etwas hat sie noch nie gefühlt. Noch nie in ihrem Leben.

„Becca, siehst du das?“

„Ja, es ist schnell! Und es kommt direkt auf uns zu!“

„Schnell!, Von der Straße und dort ins Gebüsch! Los, beeil dich!“

Die beiden Mädchen rennen zu den niedrigen Sträuchern rechts von der Straße und ducken sich tief hinein. Sina schaut nach hinten.

„Da“, flüstert sie. „Es fliegt tatsächlich in Richtung Schule.“

Als das Ding direkt über ihnen ist, hört sie das Geräusch deutlich. Wie eine Stimme. Huiiii! Und dann eine zweite, tiefere Stimme mit einem ähnlichen Laut. Huuuiiiii! Sehen kann Sina fast nichts. Einmal, als das Ding kurz vor der Mondsichel entlang fliegt, um dann in einem Bogen runter nach Krahenstein zu ziehen, glaubt Sina zwei Höcker zu sehen. Oder sind es Köpfe? Das heulende Geräusch verliert sich schnell im auffrischenden Wind und dann ist es fort. Sina glaubt kurz das Aufflackern eines Leuchtens irgendwo im oberen Bereich des Altbaus zu sehen, das ist aber schon nach einigen Sekunden wieder verloschen. Dann ist außer dem Sausen des Windes nichts mehr zu hören.

„War noch jemand von uns unten in der Stadt?“, wispert Sina. „Jemand, die*der solche Fähigkeiten hat? Odette vielleicht?“

„Wäre mir neu. Aber wir fragen sie, wenn sie zurück ist. Komm, Beeilung jetzt“, sagt Becca, „Du riechst inzwischen wie ein sehr, sehr Ungesundes, sehr leckeres Stück Steak.“

Im Zimmer ist es stickig und die Laune ist mies. Betül ist sauer, dass Sina alleine in die Stadt gegangen ist und Annika ist grumpy, dass die beiden anderen zu laut sind, um zu schlafen. Als das Licht endlich aus ist und nachdem Betül zum wiederholten Mal die gestern aufgetauchten Kratzspuren in Kess’ Ecke untersucht hat, klopft es an der Tür. Es ist Niederlage. Odette ist nicht in ihrem Zimmer und er durchsucht die anderen Zimmer. Die Mädchen können ihm nicht helfen (bzw: Sina könnte, doch sie will es nicht). Allerdings stutzt Sina. Niederlages Puls schlägt höher als sonst, er ist aufgeregt, er ist nicht ganz bei der Sache.

„Haben Sie schon oben im Turm nachgesehen?“, fragt sie. „Ich meine, da hätte ein Licht gebrannt, als ich eben zurückgekommen bin.“

„Licht? Wo? Im Turm?“ 

Sina spürt, wie Niederlages Puls zu rasen beginnt. 

„Ich dachte“, sagt sie, „vielleicht ist Odette heute Abend hochgegangen und dann oben eingeschlafen.“

„Hä? Wer?“

„Na, Odette. Darum sind Sie doch hier.“

„Ach so. Wie auch immer. Sie ist ja ein…. Also sie wird schon wieder auftauchen, nicht wahr?“

Inzwischen hat Betül das Licht angeknipst. 

„Herr Dr. Sieg. Sind Sie vielleicht krank? Sie glühen ja! Nicht dass Sie morgen krank sind! Das wäre jammerschade!“

„Nein, nein. Gute Nacht, Mädchen. Wir sehen uns morgen.“

Als er gegangen ist und Betül das Licht ausgemacht hat, setzt sich Sina noch mal auf. 

„Blöde Frage, aber: Ist morgen was besonderes? Außer dem Meeting abends?“

„Und ob“, sagt Betül. Sie grinst breit. „Morgen ist Schrottwichteln! Wird Dir gefallen, Sina. Dann kommt nämlich raus, wer Bef-fa-ná ist in diesem Jahr. Hui! Du errätst es bestimmt als Erste! Oder? Siehst sie doch dauernd! Wie war das noch mal an deinem ersten Tag? Konzentrier dich auf das, was du gut kannst: Sehen, hören, riechen… Komm schon Sina, hast du Beffaná heute schon gerochen?“

‚Nein, hab ich nicht‘, denkt Sina. Ihr Handy braucht sie nicht in dieser Nacht. Während Betül nach ein par Minuten kichernd eingeschlafen ist, liegt Sina bis vier Uhr wach und horcht auf das Heulen des Windes.