Dienstag, 5. Dezember: Hirne und Aliens

Nicht alle in der Schwarzen Klasse hängen an den Regeln. Ana ist eine von ihnen. Sie gehört zu der Fünfer-Gruppe mit Rico, Chris, Ola und Roswitha, die Sina bereits am ersten Tag aufgefallen war. Anas Schlafraum ist direkt neben Sinas, sie teilt ihn mit Ola, Odette und Becca. Mit den drei anderen hat Sina bisher kaum ein Wort gewechselt, Ana dagegen ist eher wie Betül: Offen, nett und auf ihre eigene Art ziemlich schräg. Beim Abendessen am Dienstag sitzt Sina mit ihr jenseits des Gemeinschaftstisches. Sina hat deutlich früher gegessen als der Rest der Klasse. Sie ist schon wieder seit vier Uhr wach, hat entsprechend früh gefrühstückt und auch schon Abendbrot gegessen. 

‚Wie so eine alte Frau im Seniorenheim“, denkt sie und gähnt.

Ana isst überhaupt nicht. Zumindest hat Sina sie noch nie dabei beobachtet. Ana ist das, was viele draußen wohl einen Zombie nennen würden. Und zwar im wörtlichen Sinn. Sie wurde hier ganz in der Nähe geboren und tatsächlich auch, naja…

„Du wurdest WAS?“ Sina lässt ihr Mathebuch auf die Knie fallen. Eigentlich wollte sie noch ein bisschen lernen. Die ersten Mathematikstunden bei Frau Denninghoff waren nicht sonderlich erfolgreich. Sina hat gemerkt: Sie hat keine Ahnung! Und der erste Test ist noch vor Weihnachten. Doch Anas Geschichte ist eindeutig krasser als Mathe.

„Begraben. Irgendwann, als Napoleon und seine Deppen in der Gegend alles plattgewalzt haben“ wiederholt Ana  beiläufig, während sie fasziniert ihrem kleinen Kumpel Rico drüben am Tisch beim Spachteln zuschaut.

„Schau dir das an, Sina. Das macht er jeden Abend! Erst mit seinem eigenen Teller, dann kratzt er die Reste der anderen zusammen und kippt sich auch das noch rein. Faszinierend!“

„Aber sag mal, und dann hast du…?“  

„Und dann hab ich mich wieder ausgebuddelt.“

“What the…“

Für Sina, die bis vor ein paar Monaten von all dem noch nie etwas gehört hat, ist es immer noch schwer, über die Sache zu reden. Eigentlich würde sie dringend ganz andere Fragen stellen: 

– Wovon hast du die ganze Zeit gelebt? Hast du Menschenhirne geschlürft?

– Was machst du, wenn dir mal ein Arm abfällt? 

– Schläfst du auch mal? 

– Würdest du auch mein Gehirn ausschlürfen? 

– Lebst du gerne? Und wenn nicht, was tust du dann dagegen? 

– Kannst du überhaupt sterben?

Aber: Sina ist froh, dass überhaupt jemand in der  Normalzeit mit ihr über die Sache redet und will es keinesfalls übertreiben. 

„Ist ja nicht so, dass es damals Handbücher gegeben hätte“, sagt Ana. „How to survive as an undead. Obwohl: Überleben ist nicht das Problem. Wie erkläre ich’s meinen Eltern: So ein Buch wär hilfreich gewesen.“

„Und? Wie hast du’s deinen Eltern erklärt?“

„Überhaupt nicht. Ich hatte eine Scheiß-Angst! Hätten sie garantiert auch gehabt. Sie haben mich ja selbst unter die Erde gebracht. Und es war damals noch nicht lange her, da wurde die letzte Frau in der Gegend wegen Hexerei zum Tode verurteilt. Hab mich im Wald versteckt. Und auf dem Friedhof. Gehofft, dass ich irgendwo andere treffe. Andere wie mich. Hat gedauert. 200 Jahre. Plus minus. Wer zählt schon…“

Sina schluckt. 200 Jahre getrennt von allen, die sie mag? In dem Wissen, dass jede einzelne von denen inzwischen tot und selbst unter der Erde ist? Was für eine Geschichte!

„Und dir war nie langweilig? Hattest du… Hunger?“

„Ich weiß schon, was du meinst…“

Ana klopft sich einen verirrten Hautfetzen zurück ins Gesicht und zieht ihr Halstuch bis unter die Nase. Für einen Zombie sieht sie eigentlich recht gut aus. Bleich wie eine Wasserleiche, das schon, aber entweder ist sie gut geschminkt oder irgend etwas in ihr drin funktioniert noch so, dass sie nicht vollständig auseinander fällt. 

„Warum sollten Zombies ausgerechnet Menschenhirne schlürfen?“, sagt sie. „Gibt viele andere Möglichkeiten.“

„Aber irgendwas essen musst du, oder?“

„Keine Ahnung. Zumindest hab ich Hunger. Aber einen anderen Hunger. Früher, wenn ich mich richtig erinnere, da kam der Hunger von hier unten“, sie zeigt auf ihren Bauch, „und seit der Sache kommt er von hier.“ Sie zeigt auf ihren Kopf. „So wie ein dringender Geburtstagswunsch, verstehst du?“

„Wieso bist du hier auf der Schule? Du kommst doch auch so zurecht. Du hast 200 Jahre geübt.“

„Zurecht kommen ist nicht alles. Ich interessier mich für alles mögliche. Irgendwann hab ich von der Schule gehört. Ich, ähm, bin einfach rein und hab gefragt.“

„Und?“

„Stunde auf dem Gang gewartet. Mit der Döpfner gequatscht. Die hat telefoniert und jetzt bin ich hier.“

Sina hat noch tausend Fragen, aber sie will es nicht übertreiben. Außerdem schauen schon einige aus der Klasse zu ihnen rüber. Vor allem Annika. Sie hat ihren Sina!-Es-ist-Normalzeit!-Blick aufgesetzt und sieht sehr tadelnd aus. Trotzdem: Eins muss Sina noch erfahren, bevor sie runter zu den anderen gehen.

„Ana. Das mit dem Schlürfen… Also, egal, was genau du … zu dir nimmst. Wenn Du …isst: Schlürfst du?“

„Hast du meine Zähne gesehen? Klar schürfe ich. Seit ich hier bin, hab ich sogar einen Strohhalm. Und einen hübschen kleinen Bohrer.“

Draußen auf dem Flur ist es kalt und unangenehm hell. Während der Abendstunden wirkt das künstliche Licht im Untergeschoss noch viel ungemütlicher als tagsüber. Aus dem Gemeinschaftsraum tönt das Lachen von Rico und Ana. Als Sina gegangen ist, haben sie gemeinsam begonnen, im Duett zu singen. Listen To Your Heard von einer Band namens Roxette? Keinen Plan, nie gehört. Die anderen sitzen um den Tisch herum und lachen. Gleich ist noch eine kurze Abendrunde mit Niederlage. Irgendwas klappt mit dem Essensdienst nicht. Nichts was Sina betrifft. In ihrer ersten Woche ist sie von den Gemeinschaftspflichten befreit. Sie steckt ihr Handy in die Tasche und geht langsam in Richtung Schlaftrakt. Den ganzen Tag über hat sie ihre Eltern nicht erreicht und auch auf Nachrichten haben sie bisher nicht geantwortet. Kann das sein? Dass sie vorher genau über Krahenstein Bescheid wussten und ihr nichts gesagt haben? Warum sollten sie so etwas tun? Klar, es ist schon echt strange hier, aber Sina hat auch ein wirklich weirdes Problem und warum sollten sie Sina hierhin schicken, ohne ihr vorher zu sagen, was sie über die Schule wissen?

Ich versteh’s einfach nicht!

Die Tür zum Panikraum steht offen. Sina geht hinein.Ist sie wieder hier? Tatsächlich sitzt die rothaarige Frau auf dem Boden des leeren Raums. Sie hat die Augen geschlossen und meditiert. 

„Frau Grimm?“

„Wir waren beim Du, oder nicht? Beffaná. Beffaná Grimm. Problemlöserin, Topspionin und Weihnachtshexe.“

„Was ist das für eine Tradition hier auf Krahenstein? Betül sagt, du bist Teil einer Adventstradition?“

„ Ich bin Teil von gar nichts, Liebes! Ich bin ein lebendiges Wesen und Wesen sind keine Teile von irgendwas. Bist du Teil von etwas, Sina? Bist du Teil von Krahenstein?“

„Weiß ich nicht. Fühlt sich noch nicht so an. Aber ich bin… ich bin Teil einer Familie. Ein wichtiger Teil.“

„Bist du das? Nach dem, was man so hört, sind sich andere Teile deiner Familie nicht so sicher.“

„Was hast du gehört?! Was weißt du über meine Eltern?“

„Gar nichts, Liebes. Sie sind mir ein absolutes Rätsel.“

Hinten aus dem Gemeinschaftsraum klingt ein vielstimmig gegröltes Show Me The Way To The Next Whisky Bar. Besser als Roxette, denkt Sina, aber unglaublich schief gesungen. Bevor sie weiter  über den Song oder Beffaná nachdenken kann, ertönt von oben ein Schrei, ein Poltern, dann anhaltendes, schrilles Heulen.

Beffaná springt vom Boden auf und rennt in Richtung Treppenhaus. Dann dreht sie sich um. „Na komm! Willst du nicht wissen, was da los ist?“

Es ist heulender Junge im Eingangsbereich der Schule. Außer der abendlichen Notbeleuchtung ist des dunkel hier im Eingangsbereich und Sina stolpert fast am Ende der Stufen. Der heulende Junge klebt in zwei Metern Höhe kopfüber an der Wand, direkt über dem Vertretungsplan. Es ist, als hätte irgendetwas seinen Rücken und seinen Kopf an die Wand gedrückt und und den Jungen dann um 90 Grad nach unten gedreht. Seine Arme und seine Beine zappeln hilflos in der Luft herum. Wie ein Käfer auf dem Rücken. Nur nicht auf dem Boden, sondern mit dem Kopf nach unten an der Wand. Von unten aus dem Trakt der Schwarzen Klasse dringt weiterhin Gesang nach oben. 

Aus der Nähe wird klar: Der Junge heult nicht einfach. Er jault. Zahlen und Buchstaben. Immer wieder dieselbe Abfolge. 

„CH93! 0045 2011! 9245 8234 9!“

Und von vorne. 

„CH93…“

„Interessant!“ murmelt Beffaná. Sie muss offenbar immer irgendetwas sagen. 

Der Kopfüber-Junge an der Wand ist ungefähr siebzehn oder achtzehn. Edel-Sneaker, teure, hässliche Klamotten. Hemd und Shirt hängen ihm wenig stylisch im Gesicht herum. Okay, er hängt mit dem Kopf nach unten, aber trotzdem… Zumindest verdecken sie ein wenig seine Schweinsnase  und den fürchterlichen Poser-Haarschnitt.  Sina mag ihn nicht. Wahrscheinlich hängt er völlig zurecht kopfüber an der Wand. Nein, stopp! Krasses Vorurteil! Sie kennt ihn erst seit fünf Sekunden! Andererseits: Die Schule kostet viel. Sehr viel. Hier gibt’s außer der Schwarzen Klasse nur rich kids, Aliens,  mit entsprechend bonzigen Eltern. Nicht die Sorte Zahnärzt*innen- oder Anwalts-Reich. Eher So—viel-Geld-verdienst-Du-Nicht-Auf-Legale-Weise-Reich. Nur die B-Klasse hinter der schwarzen Tür ist eine Ausnahme. Eltern der Schwarzen Klasse kriegen den Freak-Deal. Weiß der Himmel, warum…

„CH93!“ heult der Junge. Inzwischen sind auch andere aus der Family, der Schwarzen Klasse, vor dem Vertretungsplan aufgetaucht. 

„Er sagt noch irgendwas anderes“, zischt Beffaná Sina zu. „Ganz leise, hörst du das auch? Wir müssen da hoch. Nah an den Kopf ran.“ 

Wird schwer ohne Leiter. Aber Beffaná hat einen Plan. 

„Räuberleiter“, sagt sie. 

Räuberleiter? Sina schüttelt den Kopf. 

„Seh ich auch so“, sagt Grimm. „Ich bin zu schwer. Hoch mit dir!“

Sina kann nicht einmal protestieren, da steht sie schon auf den ausgestreckten Armen von Beffaná Grimm, einen Meter neben dem jaulenden Alien.

„8234. 9!“ jault der Junge. Seine wild rudernden Arme versuchen Sina zu erreichen. Fast verliert sie die Balance.

Der Junge ächzt,. kaum hörbar, es ist nur ein leises Stöhnen: „Zettel! U… und Stift…“.

„Zettel!“ ruft Sina nach unten. „Stift und Zettel!“

Wie zur Hölle, ist sie hier hochgekommen? Seit wann sind Grimm und sie eine verdammte Artistentruppe? Sina stützt sich an der Wand neben dem heulenden Jungen ab. Dabei versucht sie einen Sicherheitsabstand zu seinen Armen einzuhalten. Aus seinem Mund riecht es nach Blueberry-Vape. Bah! Unten neben Grimm kramen Leute in ihren Taschen. 

„Come on! Zettel und Stift! Wie schwer kann das sein, in einer Schule?!“

„Hier!“

Es ist die Stimme von Ana, die Sina ein Heft mit einem daran festgeklemmten Kugelschreiber hochwirft.

Die manikürten und viel zu kleinen Jungenhändchen reißen beides an sich, kaum dass Sina ihm das Heft hinüberreicht. 

„Wie im Zirkus“, keucht sie.

Der Junge kritzelt wild auf dem Blatt herum, das Papier in der einen und den Stift in der anderen Hand. Sein Heulen unterbricht er dabei keine Sekunde. Unter Sina sieht inzwischen auch Herrn Niederlage. 

‚Mann, was für ein Auftritt!’ denkt Sina. ‚Ich bin übrigens die Neue! Die, die  sich Messer in den Arm steckt und… Damn! Der Verband ist hochgerutscht und da, wo, Sinas Unterarm sein sollte, ist an einer Stelle die Wand über dem Vertretungsplan zu sehen. 

Ja. Fuck. Kein guter Zeitpunkt. Mal sehen, was die verdammte Artistenfamilie wirklich kann.

„Ich will runter! Wegen…“, zischt Sina der Beffaná zu und macht eine Kopfbewegung in Richtung ihres durchlöcherten Unterarms. Hoffentlich kapiert Grimm was los ist.

Tut sie. 

Wirklich?

„Hupsi!“ ruft Grimm und katapultiert Sina in einem hohen Bogen in die Luft.

Oh fuck, fuck, fuck, fang mich auf, bitte, bitte, fang mich auf!

Grimm fängt sie nicht auf. Grimm steht blöde grinsend an der Wand unter dem heulenden Jungen. Sina schließt die Augen und reißt die Arme hoch, um den Kopf zu schützen. Dann wartet auf den Aufschlag.

Denkste. Zwei ausgebreitete Arme, breit und stark und duftend wie, wie…

„Mann, Sina“, sagt eine tiefe, wohlbekannte Stimme. „Das Konzept von Normalzeit und so, das haste noch nicht kapiert, oder?“

Sina zieht sich beide Hoodie-Ärmel bis zu den Fingerspitzen, ihre Unterarme sind wieder save. Dann zappelt sie, bis Betül sie vorsichtig zu Boden gleiten lässt. 

Dich schickt das Himmel, denkt sie. Ein warmer Schauer durchläuft ihren Körper, von der Brust bis hinunter zu ihren Beinen.

„Alle für eine, eine für alle!“, flüstert sie und umarmt ihre Retterin.

Sina schaut sich um. Die Aufmerksamkeit der Klasse richtet sich schon wieder auf den Kopfüber-Typen an der Wand. Ein finales Heulen, dann rumst er kopfüber in die Menschentraube, darunter auch Niederlage und, zu Sinas Schrecken, Frau Direktorin Döpfner. Die reißt dem Jungen augenblicklich den Zettel aus der Hand, und befiehlt den Schüler*innen um sich herum: 

„Sebastian ins Krankenzimmer! Schnell! Ich bin gleich da. Und du, Sina, bist morgen früh bei mir im Büro. Klar?“

Sina nickt, dann wendet sie sich an Betül.

„Verstehst du jetzt?“, zischt sie. „Grimm ist kein Märchen! Es gibt sie wirklich!“

Sie schaut sich nach der Hexe um, doch die ist nirgends zu sehen.

„Keine Ahnung, wovon du redest“, sagt Betül. „Hier war niemand außer dir. Und du bist die Wand entlang geflogen!“

„Aber…!“

„Außerdem hast du ein Gespräch mit Döpfner gewonnen. Alter, Sina, das ist mal nicht schlecht für deine erste Woche!“