2. Dezember: Gespenster

Ich freue mich, Dich kennenzulernen. Deine Kess

Sina schläft wenig in ihrer ersten Nacht auf Krahenstein. Immer wieder dämmert sie weg, immer wieder kreisen die Erinnerungen wie Geier über ihrem Bett. 

Alle halbe Stunde piept das Smartphone.

Wo bin ich?

Immer wieder setzt sie sich auf und checkt die Lage.

Was ist das für ein Zimmer?

Was ist das  für ein Bett?

Ist es ein Bett?

Das Smartphone piept.

Dann die anderen  Geräusche. Geräusche in neuen Zimmern können furchtbar sein. Überall kratzt, knarzt und seufzt es. Selbst hier, in einem betonierten Kellerraum, gibt es jede Menge davon: Es raschelt, trippelt und stöhnt. Und von allen Seiten Bilder, Gedanken und Gefühle.

Das Smartphone piept.

Als das Schlafwandeln anfing, hat Sinas Mutter noch lustige Geschichten von früher erzählt, von ihrer Ausbildungszeit im Krankenhaus und den Patient*innen damals. 

„Es gibt Medikamente, Sina, da ist Schlafwandeln noch die harmloseste Nebenwirkung.“

Doch spätestens die Sache mit den Haaren fand niemand mehr komisch. Das war zur selben Zeit, als auch die ersten Stellen an Sinas Armen auftraten. Ihre Eltern fanden Sina um drei Uhr nachts, wie sie im Bett saß und sich die Haare abrasierte. Mit offenen Augen. Erinnern konnte sie sich später nicht.

Mehrmals entdeckten ihre Eltern sie erst morgens im Elternschlafzimmer. Sina lag schweigend unter dem Bett. Splitterfasernackt, vor Kälte zitternd. Abends hielt sie sich so lange wach, wie sie nur konnte. Sie hatte Angst vor dem, was nachts passieren kann. Sina lernte, dass es ziemlich save ist, nicht länger als 30 Minuten am Stück zu schlafen. 30 Minuten bedeuten: Kein Schlafwandeln und keine neuen Stellen an Armen und Beinen. Aber: 30 Minuten sind wirklich wenig Zeit.

Das Smartphone piept erneut.

Sina setzt sich auf und knipst das Licht an. Alles besser als die schlaflose Dunkelheit.

Es ist 6:30 Uhr. Die Direktorin von Krahenstein hatte es gestern bereits angedeutet: Sina schläft in einem Einzelzimmer. Wahrscheinlich kommt sie bald zu Betül, Annika und Kess, dort ist ein Bett freigeworden.

Kess.

Sina versucht die Erinnerungen zu ordnen. Nachdem sie die schwarze Tür zu ihrer neuen Klasse geöffnet hatte, benötigte sie weder ihren Tagesplan, noch die Karteikarte mit ihrer Vorstellungsrede. Sie musste gar nichts sagen. Der Lehrer wusste, wer sie ist, begrüßte sie und stellte sich selbst vor. Sina fiel ein Stein vom Herzen, dass sie ihn vorher nicht mit Namen angesprochen hatte. Denn natürlich hieß er nicht NIEDERLAGE mit Nachnamen, sondern SIEG. Dr. Niklas Sieg. Sie hätte es ahnen können, dass Grimm gestern selbst in diesem Punkt einen Scherz gemacht hatte. Wäre Sina tatsächlich ein Herr Niederlage herausgerutscht, es hätte gut sein können, dass der verhuschte Dr. Sieg im Boden versunken und nie wieder aufgetaucht wäre. Und Sina hätte es ihm womöglich gleichgetan. Die verbliebene Unterrichtszeit versuchte sie nach Kräften, ihn auszublenden und seine tollpatschigen Versuche zu ignorieren, ein cooler, junger Lehrer zu sein. Ihre Tischnachbarin war eine gute Hilfe. Betül versuchte von der ersten Minute an, Sina zum Lachen zu bringen. Betül war groß und breit wie ein Berggorilla, sanft und weich wie der Hauptpreis beim Schießstand auf der Kirmes. Auch wenn sie nichts sagte, empfing sie von Betül ausschließlich Wärme, Optimismus und echtes Interesse. Betüls lavendelfarbener Overall war das intensivste modische Statement, das Sina jemals gesehen hat. Auch die anderen in der Klasse schienen netter zu sein, als Sina befürchtet hatte. Etwas freakiger als in ihrer alten Klasse, aber nicht unsympathisch. Niemand spielte falsch, zumindest fühlte Sina nichts davon. Insgesamt zählte sie sechzehn Schüler*innen in der Klasse, sich selbst mit eingeschlossen.

Und Kess. 

Sinas suchte nach ihr, nachdem sie neben Betül Platz genommen hatte. Ich freue mich dich kennenzulernen hatte unten an der Tür gestanden, unterschrieben mit dem Namen Kess. Doch niemand in der Klasse gab sich als Kess zu erkennen. In der nächsten Stunde musste Dr. Niederlage etwas erledigen (Sina hatte eher das Gefühl, dass er zu erschöpft war), und sie hatten stattdessen eine Vertretungsstunde Englisch bei der Direktorin. Sina kannte sie bereits: Frau Dr. Döpfner. Die Direktorin nickte ihr zur Begrüßung einmal zu und begann dann kommentarlos den Unterricht. Die anderen in der Klasse schienen Döpfner nicht sonderlich zu mögen, Unruhe oder Scherze wie ins Siegs Stunde gab es bei der Direktorin allerdings nicht. Sina schnappte Ärger, Frust und Langeweile auf. Während einer Übersetzungsübung bat Sina ihre Nachbarin Betül, ihr einen Sitzplan der Klasse zu zeichnen. Kess fand sie auf dem Plan hinten in der Ecke. Daneben einen Smiley. 

„Betül, in der Ecke sitzt niemand, da ist nur eine Statue.“

Betül nickte. „Eine Sphinx, ja. Kess.“

Die steinerne Statue eines auf dem Boden ausgesteckten Löwen mit dem Kopf einer Menschenfrau war etwa halb so hoch wie Sina und fast zwei Meter lang. Sie lag auf einem hölzernen Rollwagen mit vier Rädern.

„Aber das kann nicht sein! Sie hat mir eine Nachricht geschrieben!“

Betüls Blick schwankte zwischen Staunen und Belustigung. 

„Betül, ich zeig’s Dir, wenn Du willst!“

„Später!“, zischte Betül. Wahrscheinlich musste sie sich konzentrieren. Englisch, das merkte Sina schnell, war nicht Betüls Stärke.

In der Mittagspause machte Sina noch einen Versuch.

„Was ist jetzt mit Kess?“

„Was soll mit ihr sein? Sie gehört einfach dazu.“

„Aber sie ist aus Stein.“

„Es ist eine alte Tradition. Das war schon so, als wir alle noch gar nicht hier waren. Kess gehört dazu. Morgens schieben wir sie in die Klasse. Abends schieben wir sie zurück. Wer sie im Zimmer hat, teilt den Raum nur mit zwei anderen und ich bin heilfroh, dass sie nachts bei Annika und mir im Zimmer ist. Kess braucht keinen eigenen Schrank und besetzt nie das Bad.“

„Okay. Aber sie hat mir eine Nachricht geschrieben!“

„Hat sie nicht. Die Nachricht ist schon ewig lange da.“

„Eine Nachricht von Kess?“

„Wahrscheinlich ein uralter Scherz. Ich… das ist irgendwie lustig, ich hab sie auch gesehen an meinem ersten Tag. Ich saß vor der Klasse und irgendwann ist mir die Botschaft unten an der Tür aufgefallen.“

„Ach so….“ 

Sina war tatsächlich ein bisschen  enttäuscht. Die Nachricht war gar nicht für sie.

„Es war also wieder einer ihrer seltsamen Scherze.“

„Wen meinst du? Ich versteh dich nicht.“

„Ich meine Grimm. Grimm hat mir gesagt, ich soll versuchen ‚zu sehen‘. Und als ich’s dann wirklich versuche, sehe ich diese Nachricht. Sie hat echt einen seltsamen Humor.“

„Wer ist Grimm?“

„Ich schätze, eine Lehrerin. Kennst du sie nicht? Sie hat geredet, als sei sie schon ewig hier. Groß, rote Haare, Warze an der Nase. Klingelt da was? Steht auf geklaute Pausenbrote.“

 „Ehrlich, nie gehört, Sina.“

„Mit vollem Namen heißt sie…ähm… Beffaná Grimm.“

Betül begann laut zu lachen.

„Dich hat jemand ordentlich auf dem Arm genommen, Sina! Beffaná Grimm! Verstehst Du nicht? Die Weihnachtshexe?“

„Wer soll das sein?“

„Ein altes Märchen, Sina! Eine Adventstradition. Sehr beliebt hier an der Schule. Ähnlich wie Schrottwichteln. Kapierst du’s nicht? Das ist ein prank! Erst trifft du unsere Schul-Hexe und dann bekommst du eine persönliche Nachricht vom Klassenmaskottchen? Irgendwer hat sich eine sehr spezielle Begrüßung für dich ausgedacht.“

„Ich hab also eine uralte Nachricht gelesen, die eine Statue geschrieben hat und mich mit einem Gespenst unterhalten?“

„Genau. Im Großen und Ganzen ein ziemlich normaler Tag auf Krahenstein. Lass uns Essen gehen.“

Mit Ben hat Sina bisher kein Wort gesprochen. Mit ihm sitzt Sina früh um sieben als einzige beim Frühstück im Gemeinschaftsraum. Betül hat sie schon gewarnt: Ben ist eine harte Nuss. Andere scheinen ihn nicht besonders zu interessieren. Sina versucht es mit einem Lächeln, einer Frage („Wo finde ich die Milch?“) und belanglosem Smalltalk ) („Kalt hier drin, ist die Heizung in Ordnung?“). Was immer sie versucht: Sie erntet Schweigen und Blicke ins Nirgendwo. Auch wenn sie kurz die Augen schließt und versucht, irgendwas vom ihm aufzufangen: Nichts. Puh. Sina ärgert sich jetzt, dass sie schon so früh nach oben gegangen ist. Ihren ersten Samstagmorgen in Krahenstein hat sie sich anders vorgestellt. Wie eigentlich? Mehr excitement? More glamour? Auf jeden Fall dachte sie, es sei irgendwie… wuseliger. Wuselig ist kein Wort, das Sina sonst verwendet, aber es trifft die Sache ganz gut. Samstage in Krahenstein sind nicht wuselig. Sie sind einsam.

Ingesamt ist das Frühstück eher lausig. Die Butter riecht ranzig, die Äpfel sind runzelig und angematscht. Wenigstens ist die Milch im Gemeinschaftskühlschrank okay und das Müsli ist essbar. Gut ist es nicht. Eigentlich ist es sogar mies, 

Und nun? Sie bleibt sitzen. Sina will einen Überblick bekommen, wer zu welcher Zeit aufsteht .Vielleicht gibt’s eine Gelegenheit, sich zu unterhalten. Wäre ein Anfang. Irgendwo im Vorratsschrank findet sie Brot. Und hey: Der Toaster macht normale Toaster-Sachen. Sina drückt das Brot herunter, schaut der Heizspule beim Erglühen  zu und setzt sich an den Tisch. Ohne ein Wort oder einen Blick steht Ben auf und verschwindet in Richtung der Schlafräume. War da ein Hauch von Resignation und Bedauern? Keine Ahnung.

Die Jungen-Zimmer befinden sich unten ganz hinten am Ende des Ganges. Schritte schlurfen den Flur hinab. Eine Tür fällt ins Schloss. Stille.

War echt nett, Ben, gutes Gespräch. Sollten wir öfter… Oder auch nicht, naja, egal.

Wieder allein. Sina legt den Kopf auf den Tisch und schließt die Augen. 

„Das ist doch eine Chance“, hört sie ihren Vater auf sie einreden, „vielleicht unsere einzige. Die einzige, Sina! Was meinst du? Sag doch was!“

Warum kapieren die das nicht? Man kann Väter auch dann doof finden, wenn sie Recht haben. Gerade dann.

Wenn Sina ehrlich ist, gab’s zuletzt wenig, was ihre Eltern richtig machen konnten. Wie auch, wenn das Leben im Chaos versinkt…? 

Krahenstein ist nicht unsere Chance, es ist Sinas Chance. Eltern reden immer so, als wären die Probleme der Kinder ihre eigenen. Ist aber nicht so! Eltern verstehen das nicht. Am Ende hast du nicht nur den eigenen Scheiß zu regeln, Du bist auch noch Schuld, dass deine Eltern durchdrehen.

„Du bist eben… sehr, sehr anders.“

Genau das hatte die verrückte Therapeutin gesagt. Ihr Name war Aranea Appelbaum, und sie war die erste, die nicht vollständig panisch geworden war, als Sina den Verband herunter gezogen hatte und ihren durchlöcherten Unterarm gegen das Licht gehalten hatte. Eigentlich hatten Sinas Eltern beim Blick in das chaotische Wartezimmer beschlossen, sofort zu verschwinden. Doch da war es schon zu spät. Eine große dürre Frau mit spinnenartigen Gliedmaßen hatte die Familie in ein furchtbar unaufgeräumtes Sprechzimmer geschoben und Sina und ihre Eltern auf ein riesiges Sofa bugsiert. 

Statt sich Sinas  Krankengeschichte anzuhören, die Sinas Mutter in Spiegelstrichen auf einem Zettel  notiert hatte,, fixierte die Frau die ganze Zeit Sina und schlürfte nachdenklich an ihrem Tee. Sina oder ihren Eltern hatte sie keinen Tee angeboten.

„Es gibt da diese Schule“, hatte sie gesagt. „Krahenstein. Ein Internat. Die würden dich vielleicht aufnehmen. Es wäre…“ 

Sie hatte ihre Wolljacke abgelegt und unter ihren dürren Armen kam ein weiteres paar Gliedmaße zum Vorschein, das angewinkelt unter der Jacke versteckt war. 

„… es wäre eine Möglichkeit. Es gibt dort… teilweise… eine gewisse Toleranz für… Leute wie uns.“

Sinas Mutter war aufgesprungen.

„Wir brauchen keine Toleranz! Wir brauchen Hilfe! Nicht schon wieder dieses…“

Ihre Stimme erstarb.

„Ich kann nichts versprechen. Krahenstein ist zumindest eine… Horizonterweiterung. Auf jeden Fall ist es eine Chance.“

Frau Appelbaum hatte inzwischen auch den Rock abgelegt und neben zwei sehr dürren, langen  Beinen war ein weiteres Paar Gliedmaßen hervorgekommen.

„Sina ist nicht krank. Das wissen Sie. Sie sind Ärztin, nicht wahr? Sie wären nicht hier, wenn sie eine bessere Idee hätten. Sina ist anders. Und wenn Sie ehrlich sind, wissen Sie das schon lange.“

Sinas Eltern hatten sich angeschaut und nach etwas Zögern wieder auf dem Sofa Platz genommen. 

„Was ist los mit dir, Sina?“

Die rothaarige Frau setzt sich zu Sina an den Tisch.

„Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich anders bin.“

„Genau darum bist du hier. Und wenn du mehr weißt, dann wirst du lernen damit umzugehen.“ 

„Betül sagt, du bist eine Hexe aus einer alten Geschichte. Wenn ich gleich meine Augen öffne, bist du nicht mehr da, oder?“

„Oh, wenn du sie aber NICHT öffnest, kann ich noch in Ruhe dieses Toastbrot essen. Ich muss gestehen, ich hatte schon bessere. Vielleicht fragst du deinen Vater, was sein Geheimnis ist. Seine Brote sind ein Traum! Ungewöhnlich, solche Väter. Ungewöhnlich motiviert! Hat er etwas wiedergutzumachen?“

„Wenn ich gleich aufwache, ist der Toast dann weg? Meine Brotdose gestern war auch leer, obwohl ich angeblich nur ein Gespenst gesehen habe. Was immer du bist, du bist mehr als ein Traum.“

„Brot ist Brot. Gespenster müssen auch leben.“

„Was bist du wirklich?“

„Eine Hexe. Eine alte Geschichte. Ein Weihnachtsmärchen.“

„Und warum bin ich die einzige, die dich sehen kann?“

„Viele können mich sehen. Nur nicht alle gleichzeitig. Ich schneie, weißt du noch? Mal hier, mal da schneie ich herein.“

„Dann hilf mir! Sag mir zum Beispiel, was es mit der Nachricht unten an der Tür auf sich hat.“

„Kess ist der Schlüssel. Schlaf jetzt. Eine halbe Stunde am Stück, das ist zu wenig.“

Das Smartphone piept. Sina öffnet die Augen. Während ihr letzter Traum zu blassen Schemen verschwimmt, stellt sie den Timer aus. Er muss stundenlang geklingelt haben, inzwischen es ist zehn Uhr.. Knapp oberhalb von Sinas rechtem Ellenbogen gibt es ein neues ,millimetrgroßes Loch. Sie zieht ihren Verband höher. Der Toast steckt noch im Toaster, er ist trocken, hart und kalt. Links oben ist eine Ecke angeknabbert. Auf der Treppe hört Sina Schritte und die Stimmen von Betül und anderen aus ihrer Klasse. Sinas zweiter Tag auf Krahenstein beginnt und sie ist immer noch todmüde.