Dienstag, 19. Dezember: Gesellenstück

Wie konnte das geschehen?
„Einmal!“, ruft Annika. „Es ist EIN EINZIGES Mal passiert! Wir haben Kess noch nie vergessen!“
„Es ist, wie es ist“, murmelt Sina. Sie setzt sich auf eine der Bänke auf dem Schulhof. Der Tag ist grau und windig, Sina fühlt sich krank.
„Du gehörst ins Bett, Sina. Du siehst übel aus.“

Kein Wunder. Der Abend war furchtbar. Die Nacht noch viel furchtbarer. Sina ist seit längerem wieder geschlafwandelt. Die Musketiere fanden sie heute morgen nach langer Suche im Flur, zusammengerollt auf der Schwelle zum Panikraum. Ihr rechter Fußballen war vollständig verschwunden. Ohne Ausnahme weg.

„Ist egal, wie ich aussehe,“ sagt Sina jetzt.
„ Wir müssen das hinkriegen. Es geht um dich, Annika, und wenn wir nicht rausbekommen, wer hinter den Anschlägen auf die Aliens steckt, und was das Verschwinden von Sebastian und Charlie bedeutet, dann sind die Musketiere endgültig Geschichte.“

Eigentlich sind sie das längst. Wenn Sina ehrlich ist, fühlt sie sich nicht krank. Sie fühlt sich hundeelend. Es ist kurz vor Weihnachten und alles geht vor die Hunde. Annika fliegt von der Schule. Kess, ihr viertes Musketier wurde zerstört, weil sie nicht auf sie aufgepasst haben. Und wahrscheinlich werden Niederlage und Döpfner vom Stifter gefeuert, sobald er herausbekommt, dass sie mit der Schwarzen Klasse Pläne schmieden, seine Entscheidungen zu unterlaufen.
Absolut kindische Pläne, by the way. Denn seit gestern spielt die Klasse Detektiv. Oh, wow… Die Family hat sich in zweier-Teams aufgeteilt, um jeweils eine der Fragen zu beantworten, die Niederlage an das Whiteboard geschrieben hat. Weil zwei dieser Fragen Sina direkt betreffen, bildet sie mit Betül und Annika ein Dreier-Team, um Sinas Verschwinden im Kunstraum und in der Dusche zu ergründen. Doch womit sollen sie beginnen?
Auf Betül müssen sie erst einmal verzichten. Betül ist oben bei Kess.
„Ich komme gleich nach“, hat sie gesagt und den Steinhaufen angestarrt, der immer noch neben dem Fenster liegt. Unter ihnen dreien hat Betül am längsten das Zimmer mit Kess geteilt, hat hunderte Male die Sphinx vom Zimmer in die Klasse, und zurück von der Klasse ins Zimmer geschoben. Auch wenn es Unsinn ist: Betül fühlt sich schuldig für das, was geschehen ist. Niemals hätte sie Kess vergessen dürfen.
Als Sina gestern die anderen ins Zimmer gerufen hat, schien für Betül tatsächlich eine kleine Welt zusammengebrochen zu sein. Nach einer kurzen Schockphase begann sie, Geschichten über Kess zu erzählen. Geschichten, die natürlich nicht Kess selbst erlebt hat, sondern die sich im Beisein der steinernen Sphinx ereigneten.
„Weißt du noch, Sina, als du hier angekommen bist und dachtest, Kess hätte dir eine Nachricht auf die Tür geschrieben?“
„Hat sie ja auch irgendwie! Du dachtest doch auch am Anfang, die Nachricht sei für dich.“

Da ist sie! Betül läuft, in einen dicken mintgrünen Mantel gewickelt, auf ihre beiden Mitbewohnerinnen zu, die immer noch in der Kälte auf der Schulhofbank kauern.
„Hier seit ihr! Kein Mittagessen heute?“
„Nee. Du?“
„Längst erledigt! Annika, hast du damals die Schrift gesehen? Die an der Klassentür?“
„Schrift? Klassentür? Ich… weiß nicht…“
Falsch. Annika weiß genau, wovon Betül redet. Sina kann es spüren.
„Sag mal ehrlich“, sagt sie. „Betül und ich, wir haben sie beide gesehen.“
Annika entspannt sich:
„Ach wirklich. Sorry, ich fand’s damals nur so megamäßig peinlich. Weil ich dachte, das ist wirklich für mich… Du meinst dieses „Ich freu mich dich kennenzulernen. Kess“, richtig? Ja, hab ich. Ihr also auch?!“
„Leute, ich hab eben beim Essen rumgefragt. Alle, wirklich ALLE haben’s auch gesehen! Alle an ihrem ersten Tag und niemand hat es groß herumerzählt. Weil’s im Nachhinein total albern ist zu glauben, dass die Nachricht wirklich von Kess für mich persönlich ist.“
„Ja. Und?“
„Wie? ‚Und‘? Wie wahrscheinlich ist das denn? Dass wir alle von Kess begrüßt wurden?“
„Keine Ahnung. Hast du eine Idee?“
„Meine Idee“, sagt Betül, „ist, dass Kess womöglich mehr ist als eine Zimmergenossin und ein Kleiderständer! Mehr… war…“
„Nämlich?“
„Eine Mitschülerin! Sie war immer eine echte Mitschülerin! Mit einem super-seltsamen doom!“
Annika muss sich eingestehen, dass sie hin und wieder auch über so etwas nachgedacht hat. Auf der anderen Seite: Die Direktorin, die Lehrer*innen müssten das doch wissen. Selbst wenn es nicht an die große Glocke gehängt werden sollte: Ihnen, den Mitbewohnerinnen der Sphinx hätten man es doch gesagt?
„Hast du irgendwelche Beweise, Betül?“
„Nein. Aber vielleicht könnten wir rausfinden, wie alt diese Kess-Tradition war und wer sie eingeführt hat! Vielleicht finden wir neue Anhaltspunkte!“
„Wir müssen uns darauf konzentrieren, Annika an der Schule zu halten, Betül! Kess ist nur eine Ablenkung.“
„Stimmt nicht, Sina! Unsere Aufgabe ist es herauszufinden, was dich in unser Zimmer gebeamt hat. Verdächtige Nr. 1: Kess! Kess wurde bedroht und hat dich, unserer neues, weirdes Alarmsystem, um Hilfe gerufen! Oder hast du eine andere Idee? Jetzt ist Kess zerstört und wir müssen herausfinden, warum. Und um diese Frage zu beantwortet, müssen wir mehr über ihre Vergangenheit herausfinden! Bitte! Ich glaube, dass das super-wichtig ist.“
Annika nickt: „Ich denke, da könnte was dran sein. Ist doch eh alles Stochern im Dunkeln.“
„Super!“ Betül strahlt. Sie ist es nicht gewöhnt, dass sie einen Vorschlag macht und Annika ihr zustimmt.
„Dann mal los ihr beiden! Wir sehen uns später!“
„Und was machst du in der Zeit?“
„Ich hab noch eine andere Idee. Muss nochmal hoch in unser Zimmer!“

„Hey Sina!“
„Ovid. Hallo.“
„Wie läufts bei Euch?“
„Mittel.“
„Hannes und ich sind an der Sache mit Charlie und Sebastian dran.“
„Aha.“
„Wenn Charlie wirklich Sebastian ‚entführt‘ hat – nenn es wie du willst – dann liegt’s doch auch nahe, dass Charlie was mit der anderen Sebastian-Geschichte zu tun hat. Als er an der Wand geklebt hat und so. Oder?“
„Gut möglich, ja.“
„Hannes meint, dass Charlie vielleicht sogar hinter allem steckt, was passiert ist. Vielleicht schiebt er einen riesengroßen Hass auf die Aliens. Findest du das plausibel? Wir müssen das natürlich noch beweisen und am besten auch Charlie und Sebastian wiederfinden, aber so ganz grob könnte das doch stimmen, meinst du nicht?“
„Kann sein.“
„Wass ist denn los mit dir, Sina? Hab ich dir was getan?“
„Mir gehts einfach nicht gut.“
„Willst du drüber reden?“

Interessant. JETZT will er drüber reden! Vielleicht hat er Langeweile oder seine Bros haben gerade andere Dinge zu tun?

„Mann, Sina. Bleib doch mal stehen! Wir machen das doch für Euch. Die Musketiere!“
Interessant. Sina war gar nicht klar, dass der Name Musketiere auch den anderen in der Family bekannt ist. Sie bleibt stehen.
„Eure Theorie ist quatsch. Klar könnte Charlie die Aliens nicht mögen. Niemand von uns mag die Aliens. Aber warum sollte er dann einen Erpresserbrief schreiben, in dem ausgerechnet die Schließung unserer Klasse gefordert wird? Das macht keinen Sinn!“
„Siehste. Wusste doch, dass du uns helfen kannst.“
„Schön. War’s das?“
„Nein. Du bist total abweisend! Was hab ich dir denn getan?“
„Warum interessiert dich das?“
„Warum… mich… das …? Weil… weil… du bist mir doch nicht egal!“
„Nein?“
„Natürlich nicht!“
„Sondern?“
„Nichts, ‚sondern‘! Du bist mir nicht egal!“
„Noch was?“
„Noch…? Niemand hier ist mir egal! Ich finde, wir sind `ne ziemlich gute Gemeinschaft, wir müssen uns gegenseitig unterstützen. Und so.“
„Ovid?“
„Ja?“
„Ich habs eilig. Ciao.“

Als sich Sina und Annika abends beim Abendessen im Gemeinschaftsraum treffen, ist es am Tisch schon recht leer. Ben sitzt immer noch herum und starrt auf etwas, das vielleicht einmal ein Müsli werden sollte. Odette schaut einem ekelhaft-grünen Gemüse-Smoothie zu, wie er im Mixer immer grüner und ekelhafter wird. Und, wie fast jeden Abend, ist auch Chris noch auf den Beinen. Inzwischen versteht Sina, warum er vor allem spätabends mächtig aufdreht, während er am helllichten Tag herumhängt, wie ein Schluck Wasser in der Kurve.
„Und, was rausgefunden?“
Sina schüttelt den Kopf.
„Nur mit Idioten zu tun gehabt. Sorry.“
„Ich hab vielleicht was.“
Annika lächelt verschwörerisch.
„Ich weiß, wie lange Kess schon in unserer Klasse ist!“
„Ach, echt?“
„Ja. Zumindest lässt es sich gut eingrenzen. Ich war oben bei Frau Meinecke… Ach so, hier: Ich soll dir das hier geben…“
Annika kramt aus ihrer Tasche eine Handvoll Teebeutel hervor.
„Weihnachtstee. Sie sagt ‚Für den Notfall‘. Du würdest das schon verstehen.“
Sina grinst.
„Klar. Versteh ich. Hoffentlich brauch ich das Zeug nicht. Keine Lust, noch mal oben mit den beiden Grumpy-Ladies rumzusitzen…“
„Was auch immer“, murmelt Annika. „Jedenfalls: Ich hab Frau Meinecke einfach gefragt. Und die war total hilfreich. Es gibt keine Akte von Kess. Soviel zur Theorie, dass sie eine Mitschülerin ist, von der uns niemand was erzählt… Und Fotos oder Klassenfotos gibts ja eh nicht von uns Freaks… Aber: Frau Meinecke hat noch die ganzen alten Klassenlisten bei sich im Schrank. Inklusive der Zimmeraufteilung. Ich konnte also gucken, seit wann es unten bei uns im Schlaftrakt Dreier-Zimmer gibt. Also: Vierer-Zimmer, in denen nur drei Leute untergebracht waren! Verstehst du? Das muss ja ungefähr die Zeit sein, seit der man angefangen hat, noch eine steinerne Sphinx dazwischen zu quetschen. Und…“

„Ähm. Ihr Lieben…“
Wie aus dem Nichts steht plötzlich Odette dicht neben ihnen.
„Sina, du empfängt ja offensichtlich nur Emo-Gebrüll aus der Nahdistanz. Nun gut… Bei euch im Zimmer wird Betül von Stunde zu Stunde komischer. Nicht furchteinflößend-komisch, aber komplett anderes als sonst. Nicht, dass sie auch noch zerplatzt. Ich sag’s nur…“
Als Sina und Annika in der Zimmertür stehen, finden sie ein einziges Chaos vor. Betül hat den Schrank, den Schreibtisch und die Betten zur Tür hin verschoben, so dass sie kaum hineinkommen. Die Ecke am Fenster ist vollständig freigeräumt und nur der Haufen Steine, der einmal Kess war, liegt unverändert auf und um den Rollwagen herum verstreut. Daneben liegt Betül auf dem Boden und untersucht gerade einen der Splitter.
„Betül, was machst du da?“
„Stopp! Nicht in meine Nähe kommen!“
„Betül, alles in Ordnung mit dir?“
Odette hat Recht. Sina spürt eine andere Betül. Deutlich aufgeregter als sonst, fokussierter, fast euphorisch. Hat sie Drogen genommen?
„Betül? Wo sollen wir schlafen? Die Betten stehen direkt vor der Zimmertür, genau wie der… Schrank und der Tisch? Wir kommen gar nicht rein, ohne über alles Mögliche drüberzuklettern.“
„Dann klettert halt.“
„Betül! Hallo!“
Annika wirft sich in das erste Bett, in das sie hineinkommt. Es ist Sinas.
„Ich bin todmüde, Betül! Du hast ALLE UNSERE SACHEN durcheinander geworfen! Sagst du mir bitte einen Grund, warum ich nicht total stinkig auf dich sein soll?“
„Ich probiere was aus.“
„Okaaay… Und… Was?!“
Betül setzt sich auf. Sina erschrickt. Betüls Sweatshirt ist im Brust- und Bauchbereich fast farblos. Aber auch ihre rechte Hand ist verändert. Sie ist fast gar nicht mehr zu sehen.
„Betül! Was ist mit dir passiert?!“
„Ich war beschäftigt. Mit… Klopfmenschendingen! Und je mehr ich davon mache, desto schneller geht die Transformation.“
„Und das ist okay für dich?“
Betül nickt.
„Hier! Guckt mal!“
Sie hält ein außergewöhnlich großes Bruchstück von Kess in die Höhe.
„Was ist damit, Betül?“
„Das, liebe Madame Athos, liebe Comtesse d’Artagnan, ist das Ergebnis von sechs Stunden Arbeit. Könnt ihr euch an diese Scherbe von Kess erinnern?“
„Nicht direkt…“
„Weil es sie nicht gab! Ich habe sie aus ungefähr 500 Teilen zusammengesetzt.“
„Das sieht man gar nicht.“
„Das kann man auch nicht sehen! Selbst mit einem verdammten Mikroskop kannst du’s nicht sehen! Das ist nämlich echte Klopfmenschenarbeit! Diese Scherbe ist so vollständig zusammengesetzt, als wäre sie nie zerbrochen!“
„Betül! Bedeutet das…? Hast du etwa vor, unsere ganze Kess wieder zusammenzusetzen?“
„Das ist der Plan! Ich setze ein 100.000-Teile-Puzzle aus vielen kleinen Steinchen zusammen und am Ende haben wir unsere Kess zurück!“
„Aber deine Hand, dein Bauch! Am Ende bist du unsichtbar, wenn das so schnell weitergeht!“
„Sina, so ist das bei uns Klopfmenschen. Wir machen das, was wir lieben und werden so zu dem, was wir sind. Verstehst du? Es ist okay!“
„Aber ist es das auch wert?“
Betül steht sehr vorsichtig auf und achtet dabei drauf, keines der Bruchstücke zu berühren.
„Es ist total egal, ob es das wert ist. Irgendwann am Ende unserer Transformation suchen Klopfmenschen sich eine Aufgabe, eine Art… Gesellenstück, würden die Menschen sagen. Und wenn wir damit fertig sind, dann sind wir bereit für den nächsten Abschnitt unseres Lebens.“
Sina schluckt. Sie spürt zwar Betüls unbändigen Tatendrang, ihre Lust an dieser Aufgabe, aber sie versteht auch, was das bedeutet.
„Aber dann würden wir ein Musketier zurückgewinnen und dafür ein anderes verlieren!“
„Nicht verlieren. Glücklich machen!“, sagt Betül. „Und das ist doch viel besser, als wenn ich einen dusseligen Wandschrank baue oder einen popeligen Stuhl.“

Sie versuchen es drei Stunden lang, aber letztlich wird Sina und Annika klar, dass sie unter diesen Umständen niemals werden schlafen können. Annikas Bett liegt halb auf Sinas, in der Ecke am Fenster brennt Licht, weil Betül es zum Arbeiten benötigt und wie lange sie heute noch durchhält, weiß nicht einmal sie selbst genau.
„Kann sein“, sagt sie, „Dass ich gar nicht schlafen gehe.“
Es klingt alles ganz plausibel, was Betül ihnen erzählt hat, doch schließlich besteht Annika darauf Niederlage Bescheid zu geben.
„Wer weiß“, sagt sie, „Ob sie nicht doch einfach verrückt geworden ist. Und Niederlage kennt sich bestimmt aus mit Klopfmenschen. Außerdem kann ich eh nicht schlafen.“
Der Lehrertrakt ist eine Art Neubau neben dem Neubau. Es wurde offenbar peinlich genau drauf geachtet, dass die Lehrerinnen den stressigen Alltag der Aliens in der Freizeit nicht stören dürfen und daher gibt es einen eigenen Nebeneingang. Unter Niederlages Zimmertür scheint noch Licht hervor und sie klopfen. „Was denn?“ „Wir sinds, Annika und Sina, wir müssen mit Ihnen über Betül sprechen. Ziemlich dringend.“ „Kurzen Augenblick bitte!“ Es rumpelt. Drinnen wird irgendwas verschoben. Annika schaut fragend zu Sina und die versucht ein bisschen hineinzuhorchen. Ja, da ist er. Unser Dr. Niederlage. Er ist relativ entspannt, auch wenn sie ihn offensichtlich bei etwas gestört haben. Ist da noch etwas? Nein gar nichts. Sina spürt nur ihn, sonst nichts. Gar nichts. Absolut gar nichts. „Dr. Sieg“, ruft sie durch die geschlossene Tür. „Sagen sie Beffaná, sie soll ruhig dableiben. Ich hätte sowieso noch ein paar Fragen an sie.“ Drinnen ist es mucksmäuschenstill. Dann: Wieder ein Rumpeln, ein leises Fluchen, und Niederlage öffnet die Tür. Er trägt einen noch schlabberigeren Pulli als sonst und sieht ein bisschen müde aus. Am offenen Fenster sitzt an einem winzig kleinen Tischchen, Beffaná Grimm und nippt mit Unschuldsmine an einer Tasse Tee. „Was geht, Beffaná?“ ruft Sina. „Wolltest wohl gerade durchs Fenster türmen.“ Beffaná schmunzelt. „Erstaunlich, Sina. Woher wusstest du, dass ich hier bin?“ „Hab ich mich auch gefragt. Und dann ist mir aufgefallen: Immer wenn ich auf eine ganz bestimmte Weise gar nichts spüre, dann passt was nicht. Normalerweise empfange ich immer etwas. Von Annika, von Dr. Sieg, von den Lehrerinnen in den Nachbarzimmern. Jetzt war’s so, dass ich nur Dr. Sieg empfangen habe. Ausschließlich. So als würde jemand dafür sorgen, dass ich von allem anderen abgelenkt werde. Sina, hab ich mich gefragt, wem würdest du so etwas zutrauen?“
„Guter Gedanke.“ Beffaná hebt ihre Teetasse, als wolle sie mit jemandem anstoßen.

„Kommt rein, Mädchen“, sagt Niederlage. „Dann lasst uns reden.“
Durch das Fenster neben Beffaná strömt kalte Winterluft in das stickige Zimmer und unten aus der Stadt Krahlheim tönt das Läuten der Kirchenglocken bis hoch auf den Berg. Mitternacht.