Sonntag, 17. Dezember: Schwarzer Sonntag

„Darf ich vorstellen? Die drei Musketiere: Les dames Betül, Annika et Kess! Mesdames, verbeugen Sie sich vor den hochwohlgeborenen Eltern der berühmten Comtesse d’Artagnan!“

Sina weist auf ihre Eltern, die verdruckst ins Zimmer der Musketiere hereinschauen. 

Betül deutet eine Verbeugung an, Annika vollführt einen formvollendeten Hofknicks, Kess tut, was sie immer tut und erntet einen tadelnden Blick von Sina: 

„Die gute Kess, chers parents, arbeitet noch an ihren Manieren. Was aber nichts an ihrer charakterlichen Integrität ändert. Sie ist in jeder Hinsicht die höflichste Mitbewohnerin, die ihr euch nur vorstellen könnt! Einzig an ihrem Wendekreis und ihrer Kurvenlage könnte sie noch etwas arbeiten.“

Sie alle drei, Sina und ihre Eltern, sind sehr müde. Sinas Eltern haben in der Nacht zum Sonntag unten in Krahenstein in einer Pension geschlafen. Und Sina hat spontan beschlossen, die Nacht bei ihnen zu verbringen. Um ihren Eltern unangenehme Überraschungen am Sonntagmorgen zu ersparen, ist sie vorübergehend zu ihrem alten Halbstundenrhytmus gewechselt und der Handy-Alarm hat sie alle drei auf Trab gehalten. Obwohl sich ihre Eltern natürlich nichts haben anmerken lassen.

Als erstes haben sie heute morgen zusammen versucht, den Stifter ausfindig zu machen. Doch genau wie gestern Abend war sein Zimmer unten im Schlaftrakt der Schwarzen Klasse verschlossen und auch viel Klopfen hat nichts gebracht. Ist er schon wieder abgereist?  

Während Betül Smalltalk mit Sinas Eltern betreibt, stiehlt sich Annika bald aus dem Zimmer („Termin unten bei Döpfner, die Frau hat wohl auch kein Wochenende…!“) und Sina nutzt die Ablenkung durch Betül, um Annika zum Büro der Direktorin zu folgen.

„Sina, verschwinde“, sagt die nur. „Ich hab ein Meeting mit Annika. Allein!“

„Bitte! Ich will nur wissen, wo der Stifter ist?“

„Nicht gesehen, gerade nicht meine Baustelle, verzieh dich. BITTE!

„Es ist aber wichtig! Meine Eltern sagen…“

„Liebe Sina. Wir beide sehen uns sehr viel häufiger, als einige DIESER DUSSELIGEN ALIENS MICH VOR DIE LINSE KRIEGEN! Und ihre Eltern zahlen das ZEHNFACHE für den Spaß hier! Ich weiß nicht, wo M.K. ist. Ich weiß nicht mal, ob er überhaupt noch hier ist! Such ihn dir selber! Aber wehe(!) du sagst IRGENDETWAS FALSCHES! Es gibt nur zwei Personen, die im Notfall M. K. die Meinung blasen dürfen. Im äußersten Notfall, nur alle paar Jahre und auch nur, wenn ich Bee in der Nähe weiß. Ist das klar? Rein mit dir, Annika!“

Rumms. Tür zu, Sina draußen, Thema durch.

Unverrichteter Dinge schlurft sie zurück ins Untergeschoss, biegt aber noch einmal ab, um sich in einem der Gemeinschaftsbäder nach neuen, unsichtbaren Stellen abzusuchen.

Warum tust du das? Entscheide dich endlich und zieh es durch!

Doch das ist leichter gesagt als getan. Sina hat ihre Eltern schlucken sehen, als sie sie begrüßt hat. Und auch Annikas Blick, als sie die Stelle am Unterkiefer so richtig zu sehen bekam. Und sie ist eine Freundin. Andere Blicke werden anders sein. Andererseits: Jetzt ist es eh zu spät. Die Läsionen wird sie nie wieder los…

„…Und dann schreit Sina ihn an: ‚Krieg deine Komplexe in den Griff, Niederlage!‘ Seitdem ist sie eine Legende!“

Na großartig! Kann ich Betül keine zehn Minuten mit meinen Eltern alleine lassen, ohne dass sie schlimmste Geschichten über mich ausplaudert?! 

„Betül! Das hab ich gar nicht gesagt!“

„Du hast ihn beschimpft und du hast ‚Niederlage‘ gesagt. Willst du widersprechen?“

Sina schüttelt den Kopf.

„Aber ich hab mich entschuldigt und er hat die Entschuldigung angenommen! Alles super-erwachsen! Außerdem: Kennt ihr Dr. Sieg? Wenn ihr ihn seht, versteht ihr es.“

Als es klopft, ahnt Sina nichts Gutes. Es ist das schwächste, das zögerndste, das leiseste Klopfen, dass man sich nur vorstellen kann und es gibt nur eine Person hier unten, der sie ein solches Klopfen zutraut.Warum sollte Ben irgendwo Klopfen, wenn nicht gerade die Hölle losbricht?

„Ben? Was machst du hier?“

„Ich – Pause – ich komme, weil ich – Pause – weil Roswitha mich – Pause – schickt. Charlie hat, glaube ich – Pause – jemanden entführt.“

Was?!

Charlie wohnt mit Ben, Roswitha und Ola in einem Zimmer. Ben sagt seltsame Sachen. Das heißt: In der Regel sagt er überhaupt nichts und wenn Roswitha ihn schickt, dann ist die Sache ernst. Denn Roswitha weiß mehr als alle anderen und hat einen siebten Sinn dafür, was in der Schwarzen Klasse vor sich geht.

Als Sina mit Betül und ihren Eltern auf den Flur kommt, rennt Hannes bereits durch den Gang und treibt sie zur Eile an:

„Kommt schon! Krisentreffen im Gemeinschaftsraum!“

Im Gemeinschaftsraum haben sich bereits alle versammelt. Nur Annika ist noch bei ihrem Treffen mit Döpfner. Außer Sina hat nur noch Rico seine Eltern mitgebracht. Sie passen kaum ins Zimmer. Zwei riesige fellbewachsene Yeti-Monster, wobei das größere der beiden eine der Schulbroschüren in den Händen hält und eine Lesebrille trägt.

„Charlie hat den Nummernkonto-Alien entführt“, sagt Roswitha. „Ola hat ihn auf dem Schulhof gesehen. Der Alien war bewusstlos und Charlie hat ihn an seinen Haaren hinter sich hergeschleift.“

„Wo sind sie hin, Roswitha? Du weißt es doch!“ ruft Hannes, wird jedoch von Chris gestoppt:

„Sie dürfen es nicht sagen, Hannes. Es ist ihr doom.“

„Außerdem!“, ruft Ola. „Sebastian, der Arsch, hat’s eh verdient!“

„In welche Richtung sind sie denn, Ola?“

„Hier in Richtung Altbau. Ich wollte ihnen folgen, doch Charlie hat mich gehindert!“

„Gehindert?“

„Ich konnte mich nicht bewegen. Und dann waren sie weg.“

„Habt ihr in Euren Zimmer geschaut?“

„Nein Hannes, wie dumm von uns! Das wird es sein!“

„Ich glaube, das war diese Ironie, von der ich euch erzählt habe“, wispert Rico seinen Eltern zu und sein Vater runzelt angestrengt die Stirn.“

Die Klassentür springt auf und noch bevor Dorothea Döpfner durch die Tür stampfen kann, drängelt sich ein großbewachsener Kerl mit Mantel und hochrotem Kopf in die Klasse.

„Wo ist dieser Charlie?“ brüllt er, bleibt dann vor dem großen Gemeinschaftstisch stehen und mustert die Anwesenden.

„Ach, schau an, schau an! Ein geheimes Treffen der Inklusionsklasse! Wer von Euch ist Charlie und wo ist mein Sohn?!“

„Herr Liebwitz von Stöckendorf!“ Döpfner drängt sich vor ihn. „Charlie ist nicht hier. Sie sind ja nicht doof!“

„Sie? Wieso sie? Sind mehrere beteiligt? Ich wusste, dass das eine Verschwörung ist!“

Sie ist laut dieser Kinder hier“, ruft Döpfner und Roswitha stöhnt auf, „das angemessene Personalpronomen für diverse Menschen, die die Festlegung eines binären Genders ablehnen oder noch in einer wie auch immer gearteten Transformationsphase ohne festes Ziel begriffen sind…“

Sina bemerkt, wie in der Tür zum Gemeinschaftsraum nun auch Adelind von Stöckendorf und Annika aufgetaucht sind. Annika hat ein verweintes Gesicht. Sina drängt sich neben dem Tisch entlang zur Tür, wird jedoch von Stöckendorf aufgehalten.

„Wohin“, junge Dame, denkst du ohne Erlaubnis gehen zu können?“

Sein Arm versperrt ihr den Weg durch die Tür.

„Make-up überprüfen!“ keift Sina und reißt sich das Tuch vom Gesicht.

Von Stöckendorf wird bleich, genau wie seine Frau auf der anderen Seite des Türrahmens.

„Eine Abnormität, wispert sie und fächelt sich etwas Luft zu.

Sina drängelt sich an beiden vorbei und verschwindet mit Annika im Schlepptau in Richtung ihres Zimmers.   

„Was ist los, Annika?“, fragt sie schließlich, als sie in ihrem Zimmer angekommen sind. Sina hat sich auf Kess’ Rücken gesetzt und Annika neben sich platziert.

„Ich muss gehen“, sagt Annika. „Weil’ ich mein doom nicht akzeptiere und nicht mal drüber reden will.“

„Ist das der Grund?! Ausgerechnet jetzt?!!“

„Döpfner sagt, das sind eben die Regeln.“

„Diese falsche Schlange! Die soll mich kennenlernen!“

„Sie sagt, der Stifter und sie sind eine Liste mit allen Schüler*innen durchgegangen. Sie musste ihn bei allen auf den aktuellen Stand bringen und dann hat er gesagt, dass ich zum Halbjahr gehen muss.“

„Aber er ist überhaupt kein Lehrer!“ (‚Kein Lehrer mehr‘, denkt Sina)

„Er gibt das Geld. Vergiss es. Das Thema ist durch.“

„Und wenn du… HEUTE ABEND! Wenn du heute Abend drüber redest? Wenn du vor allen alles sagst? Ich weiß, das ist schwer, aber…“

„Es ist vorbei Sina. Döpfner sagt, es ist vorbei.“

So eine miese Ratte! Nur weil er Macht und Geld hat! Als wäre es wichtig, wann genau Annika die Kurve kriegt!

„Wann genau gehst du?“

„Am Freitag. Am letzten Schultag vor Weihnachten. Meine Eltern holen mich ab.“

Sina hat Annikas Eltern bisher nie gesehen. Es ist kein besonders passender Zeitpunkt, drüber nachzudenken, aber vielleicht sieht man ihnen an, welches doom Annika erwartet. An Ricos Eltern beispielsweise sieht man es sofort. Aber es gibt dooms, die werden von Eltern an die Kinder weitergegeben (wie bei Rico). Und welche, da ist es völlig unklar, warum ein Kind diesen Weg gehen muss.

Sina streicht über den Rücken der steinernen Sphinx. Jetzt am Wochenende dient sie meist als Kleiderständer. Besser. Als irgendetwas, wo Betül und Sina ihre Klamotten lagern, bis die Sphinx kaum mehr zu sehen ist und Annika darauf besteht, dass aufgeräumt wird.

„Was sollen wir machen, ohne unsere Madame Athos?“

„Ich hab mich immer eher als Porthos gesehen.“

„NEIN. Das ist ganz klar! Athos ist die Anführerin und gibt die Richtung vor. Das bist du!Porthos ist die Hirtenhündin, die alle zusammenhält. 1 zu 1 Betül. Kess ist Aramis, mit ihrem feinen Geist und dem Sinn für Stil und Mode…“ (Sina nimmt mit spitzen Fingern eine von ihren alten Unterhosen von Kess’ Kopf und pfeffert sie in eine andere Zimmerecke)… und ich bin d’Artagnan. Bin als letzte gekommen, fliege manchmal durch die Gegend und hänge machmal mit einer Weihnachtshexe ab.“

Die, denkt Sina, sich seit Donnerstag schon wieder rar macht. Genau wie Niederlage. Dabei ist er ihr Vertrauenslehrer. Wahrscheinlich fliegen die beiden durch die Gegend und kriechen durch die Schornsteine irgendwelcher Monster, um ihnen Krawattennadeln oder Socken zu schenken.

Oder Brillen und Zirkel, denkt sie und schluckt.

„Darf ich was fragen, Annika? Ist mir gerade eingefallen: Du bist nicht zufällig ein Pläneschmied? Das würde doch irgendwie zu dem Zirkel passen…“

„Sehe ich aus wie ein dicker Zwerg?!“

Zum ersten Mal huscht etwas Ähnliches wie ein Lächeln über Annikas Gesicht. 

„Erstens ist Normalzeit, Sina und zweitens bist du im Raten eine Niete!“

Sinas Eltern sind gefahren. Solange der Stifter nicht auftaucht können sie nichts tun. Sina ist ganz froh. Die Nachrichten über die als Baby verschwundene Schwester, haben sie geplättet. Aber Sina weiß sehr genau: Das, was damals geschehen ist, war für ihre Eltern die Hölle, für sie selbst aber… Klar, sie könnte ihren Eltern vorwerfen, mit ihr nie darüber geredet zu haben. Ändern würde es trotzdem nichts.

Die Klasse ist immer noch aufgewühlt wegen Charlie und dem Auftritt von Stöckendorf Senior. Von beiden fehlt weiterhin jede Spur. Und als abends das Meeting im Gemeinschaftsraum beginnt, kann Niederlage, der kurz vor Beginn ohne ein weiteres Wort wieder aufgetaucht ist, nicht Neues berichten.

„Was mich ein bisschen wundert“, wispert Annika, „ist, dass die Stöckendorfs sofort wussten, wo sie hin mussten. Papa Stöckendorf ist in unser Meeting in Döpfners Büro geplatzt, nachdem sein Sohn nirgends zu finden war. Und danach sind er und Trophy-Wife Adelind schnurstracks ins Untergeschoss gestampft. Warum kennt er sich im Altbau aus?“

„Er ist im Beirat, glaub ich“, flüstert Sina, „vielleicht bekommen die regelmäßig Baupläne oder so…“

„Fünf D-dinge habe ich auf meiner Liste“, sagt Niederlage:

„Erstens: Chris, Becca und Ana haben eine w-wirklich herausfordernde Woche hinter sich. Ich würde mir w-wünschen, das ihr das g-gleich mit der Klasse t-teil. 

Zweitens: Ch-charlie. Er ist noch a-aufzufinden und e-es gibt Gerüchte, d-das er etwas mit dem Verschwinden von Stöckendorf J-junior zu t-tun hat. Dazu gibt es aber k-keine neuen N-nachrichten.

Drittens und viertens: W-wir verabschieden am F-freitag zwei S-schüler*innen aus unserer Klasse. R-roswitha b-bekommen ihr Abschlussz-zeugnis… (Ein Raunen geht durch die Klasse. Roswitha nickt wohlwollend gechillt). 

Viertens: Wir mü-müssen uns von A-annika verabschieden. Annika, das schmerzt mich ganz besonders (‚Holla!, denkt Sina, kein Stotterer!‘) und es p-passiert ohne meine Zustimmung!“

Dann geht er zu Annika, flüstert leise mit ihr, und umarmt sie. 

‚Das kommt von Herzen, denkt Sina. ‚Von beiden.‘ Man kann es nicht nur fühlen. Es reicht, sie anzuschauen.

In der Klasse hat sich die Nachricht bereits rumgesprochen. Noch während Annika und Dr. Sieg sich umarmen, gibt es einen warmen, lang anhaltenden Applaus.

Rico steht auf. „Fuck the system!“ brüllt er. Die Fünfer-Gang und alle seine Zimmergenossen stimmen ein: „Fuck the system!“ 

„Können wir nichts tun?“, ruft Sina. „Herr Dr. Sieg! Sie haben doch gute Connections zu einer gewissen Weihnachtshexe! Die kann doch bestimmt was tun! Der Stifter hat mir persönlich gesagt, dass er und Beffaná sich seit langer Zeit kennen!“ 

„Hat er das?“ Niederlage ist ehrlich erstaunt.

‚Aber nicht aus Unglauben, denkt Sina. ‚Niederlage weiß es auch. Er ist nur erstaunt, dass der Stifter es mir erzählt hat.‘

„Können sie sie nicht fragen?“ ruft Sina. „Wir haben noch fünf Tage Zeit!“

Niederlage lächelt.

„Fünftens“, sagt er. „Das, was Sina sagt. Wir müssen etwas tun. Bis morgen früh, erste Stunde, Spezialgeschichte, versuche ich Beffaná zu finden. Aber vorher sollten wir trotzdem drei Kerzen anzünden und Chris, Ana und Becca nicht vergessen. Ihr hattet eine wirklich beschissene Woche, Leute! Das war nicht okay. 

Und, Betül, könntest du nach dem Meeting noch kurz bleiben? Ich müsste mein Fahrrad reparieren.“ 

‚Nicht gestottert‘, denkt Sina, und gibt Annika und Betül einen Daumen hoch.