Mittwoch, 13. Dezember: Exkursion

„Wie stellst du dir das eigentlich vor? Ich bin seit Tagen nur noch im Krisenmodus! Hast du dir mal überlegt, dass ich hin und wieder auch bei Rita und Marcel aufschlagen muss? Wir sind bald keine Familie mehr, sondern eine WG! Aus der ich übrigens rausfliege, wenn ich nicht aufpasse, Bee! Rita nennt mich nur noch ihre hysterische Mitbewohnerin…“

Seit einer halben Stunde lässt „Bee“, also Beffaná, Dorothea Döpfners Schimpftiraden über sich ergehen und Sina sitzt die meiste Zeit am Konferenztisch und spiegelt sich in der Zuckerdose. Alle zehn Minuten geht sie rüber zu Frau Meinecke, gießt frisches Wasser in den Wasserkocher, lässt sich einen Teebeutel geben, und stellt Beffaná eine neue Tasse hin.   

„Du hast dir den Job ganz alleine ausgesucht, Dee“, murmelt Beffaná, wirft Sina einen aufmunternden Blick zu und die Schimpftirade beginnt von Neuem.

„Du machst dir überhaupt kein Bild, Bee! Heute morgen hatte ich den Stifter am Telefon, M.K. persönlich! Mit dem hab ich zuletzt vor sieben Jahren gesprochen und es ist Ü-BER-HAUPT kein gutes Zeichen, wenn der von sich aus anruft! Du weißt, wie ungern er mit Aliens spricht und gestern haben sich gleich zwei bei ihm gemeldet und sich beschwert! Keine Ahnung, woher die seine Nummer haben!“

„Telefonbuch? Internet? Reiche-Leute-Facebook – gibts sowas?“

„Immer nur blöde Sprüche, oder?! Leck mich anne Füße, Bee, ehrlich!

Wie weit seit ihr beim Aufräumen, Sina? Nur die guten Nachrichten bitte.“

Sina hat bis jetzt nicht verstanden, warum ausgerechnet sie andauernd dabei sein muss, wenn Grimm und Döpfner ihren Clinsch austragen. Roswitha sind doch am ehesten sowas wie die Klassensprecher der Family, und inzwischen ist es wohl auch egal, wer von Beffaná weiß. Spätestens seit gestern wissen alle in der Klasse von ihr. Alle haben sie gesehen, wie sie auf dem Sportfeld eine gottverdammte Vollmondnacht beschworen hat, um Ola zum Werwolf zu machen.

„Sina! Ich hab dich was gefragt!“

„Ich, äh, ich glaube es läuft ganz gut. Herr, äh, Patzke und Herr Niederlage waren heute morgen wieder im Unterricht, und auf dem Schulhof hab ich heute nix, ähm, Seltsames gehört. Noch ist nichts durchgesickert.“

„Hast du dich bei Dr. Sieg entschuldigt?“

„Es gab noch keine Gelegenheit, ich…“

„…ich trau mich nich, bütte, bütte, Frau Direktor, ich möchte das bütte nich machen, weil ich so ein armes Hascherl bin, außerdem war er auch ganz doll doof zu mir, bütte Frau Direktor… Reiß dich zusammen, und mach’s einfach, sonst fliegst du! Basta! Klar?!“

„Ja, Frau Döpfner.“ 

„Was ist mit Euren Mitschüler*innen aus den anderen Klassen?“

„Also da weiß Frau, ähm, Grimm viel besser Bescheid, ich weiß nur, dass Charlie ihr gestern geholfen hat beim, ähm, Aufräumen…“

„Charlie?! Bee, du solltest Roswitha bitten, dir zu helfen!“

„Roswitha hat abgelehnt, Dee. Das war doch von vornherein klar. Roswitha ist sooo kurz vor dem Abschluss, es würde gegen alles sprechen, was sie sind, so klar parteiisch einzugreifen.“

Aha. Okay?? Eigentlich ist es für Sina nicht der beste Augenblick, um ihre persönliche Neugier zu befriedigen, andererseits ist das jetzt auch schon egal. Zeit für eine Betül- Move. Sina probiert es:

„Darf ich kurz fragen, was das heißt? Mit Roswitha und ihrem Abschluss?“

„Klar darf du das, weißt du doch, du darf mehr als du denkst“, sagt Beffaná und nickt.

„Du hast Recht, Dee, Charlie ist nicht ideal , aber Charlie sind die einzigen anderen mit den mentalen Fähigkeiten, um Erinnerungen rückstandslos zu modifizieren.“

„Charlie gefällt mir nicht, Bee! Charlie ist gefährlich!“

„Das ist ihr doom, liebe Dorothea und das weißt du. Sie haben das gut gemacht.“

„Und immer diese verf… diese verflixten Pronomen bei den ganzen diversen Typen in der B!“

„Die gibts in allen Klassen, Dee! Charlie hat den Job erledigt, fertig. Die Aliens erinnern sich weder an mich, noch an das, was in der Sportsunde passiert ist. Wenn du sie fragst, hatten sie eine Freistunde und haben versucht, Bitcoinmillionäre zu werden.“

„Sie… WAS?“

„Es ist alles okay, Dee. Großes Weihnachtshexenehrenwort. Ich muss los. Danke für den Tee, das ist eine große Verbesserung beim Service hier. Komm, Sina, wir müssen noch ein paar Kleinigkeiten regeln.“

Sina schaut etwas ängstlich zu Döpfner, denn noch einmal will sie die Direktorin nicht verärgern. Doch die winkt nur ab und tut so, als würde sie irgendwas in ihren Akten lesen.

„Danke für deine Geduld, Sina! Wir sehen uns bald“, sagt die Hexe, kaum, dass sie im Treppenhaus vor Döpfners Büro stehen.

„STOPP!“

Yes! Sina gratuliert sich selbst. Endlich(!) der richtige Ton, und endlich ist Grimm mal NICHT mir nichts, dir nichts im Nirgendwo verschwunden.

Grimm lacht spöttisch auf.

Stopp Hexe! Das wäre lustig gewesen. Einfach nur Stopp ist ein bisschen harsch, findest du nicht?“

„Wir müssen dringend, reden Beffaná!“

„Scheint so, als musst du dringend reden. Ich hab Hunger…“

‚Immer nur blöde Sprüche. Dee, also die Direktorin, hat absolut recht‘, denkt Sina.

„Erstens: Was war das am Wochenende, oben auf dem Parkhaus mit Dir und Niederlage? Er weiß, dass Du da bist, warum belügst du mich?

Zweitens: Steckst du hinter der Wichtelaktion von Sonntag auf Montag?

Drittens: Warum eine Brille?

Viertens: Warum ist Annika so fertig? Was bedeutet der Zirkel?

Fünftens: Dass Ovid eine Vogelscheuche ist, was bedeutet das? Er will darüber nichts sagen. Außer, dass doch jeder weiß, was eine Vogelscheuche ist.“

Beffaná, das ist nicht lustig. Ich brauche dringend Antworten! Ach so, und sechstens: Wenn du wirklich eine Hexe bist, und wenn du so viel weißt, dann sag mir, warum haben meine Eltern mir so wenig über Krahenstein erzählt?“

„Das war nicht schlecht, Sina“, sagt Beffaná. „Für deinen… huch! Ist es wirklich schon soooo spät? Bis du schon dreizehn Tage auf Krahenstein?! Kein Wunder, dass du so aufsässig geworden bist! Heute ist der Dreizehnte… Weißt du, was wir Hexen am 13. eines jeden Monats feiern? GAR NIX! Reiner Aberglaube. Man dichtet uns ja allerhand Unfug an, aber die eine Hälfte davon sind falsche Schlüsse, und die andere Hälfte ist glatt gelogen. Die dritte Hälfte aber… Ja, guck nicht so, aber es gibt sie! Stell dir eine Münze vor und zerteil sie in der Mitte. Da gibt es die eine Hälfte, die zweite Hälfte, und dann: Dreh die die erste Hälfte um! Siehst du? Die dritte Hälfte der Wahrheit ist, dass das allermeiste, was Hexen tun, nicht hier im Kopf entschieden wird…“ Beffaná tippt sich an ihre Stirn, „… sondern irgendwo ganz anders…“ Beffaná zeigt auf ihren Bauch, ihre Füße, ihre Beine, ihren Hintern und plumpst auf die Treppe.

„Ist bei Menschen übrigens genauso… Aber…

Beffaná zögert. Sie überlegt, für ihre Verhältnisse, sehr sehr lange.

 „Sina. Um wenigstens einige deiner Fragen zu beantworten, musst du mir folgen. Hast du heute noch was vor?“

„Nicht wirklich. Nur zu! Hauptsache, du verschwindest nicht wieder!“

Sie geht der Hexe hinterher, die zu Niederlages Lieblingsplatz geht, der kleinen Treppe, die zum Türmchen führt. Dort erklimmt Beffaná die schmalen Stufen und Sina folgt ihr auch dorthin.

„Stimmt das eigentlich, was du gestern gerufen hast?“, fragt Sina und atmet schwer, während sie hinter der Hexe einen einen dunklen Raum betritt. „Hast du deinen Bruder besucht?“

„Warum sollte ich lügen? Ist eine Adventstradition bei uns.“ 

„Wie ist das, Geschwister zu haben? Habt ihr Euch früher viel gestritten? Wie ist dein Bruder so? Ist er auch ein Hexer?“

„Nein, er ist ganz anders Und wir streiten uns immer noch. Und vertragen uns wieder und manchmal, da mögen wir uns sogar. Warum fragst du? Hättest du gerne einen Bruder?“

„Ja. Aber meine Eltern sagen, dass ihnen ein Kind reicht. Nur reicht mir das manchmal nicht. Verstehst du das?“

Beffaná knipst das Licht im Turmzimmer an.

„Klar verstehe ich das! Man vermisst immer das, was man nicht hat. Ich hatte, so lange ich denken kann, keine Mutter. Und statt mich mit meinem Vater zufrieden zu geben, hab ich immer davon geträumt, eine Mutter zu haben. Schau. Hier ist er!“

Aus einer dunklen Ecke des Raumes, in dem ansonsten nur alte Stühle und ein paar kaputte Tischchen gelagert sind, klaubt Beffaná einen Besen hervor. 

„Hast du Lust Sina?“

Hm. Lust? Respekt? Muffensausen? Angst, wahnsinnig zu werden oder dreißig Meter in die Tiefe zu fallen?

Die Antwort lautet: Ja.

Huuuuiiii“ ist die Untertreibung des Jahrhunderts! Wie ist es möglich, dass Niederlage Samstag Abend nicht völlig ausgeflippt ist, als er auf dem Besen saß? Sina erinnert sich genau: Er hat einfach „Hui!“ gerufen. 

„Weißt du“, schreit  Beffaná gegen das Heulen des Windes an, „er hat das wirklich schon sehr häufig gemacht. Er war noch ein Kind, als er zum ersten Mal auf diesem Besen saß! Und später hatte er sogar ein eigenes, fliegend Fahrrad. Süß, oder?“

Sie fliegt eine lang gestreckte Kurve über Krahenstein und lenkt den Besen über eine weite Hügellandschaft. Am Horizont erkennt Sina die Skyline der nächsten großen Stadt.

„Da unten“, ruft Beffaná und zeigt auf ein kleines Haus am Fuß einer Bergkuppe, „da habe ich ihn kennengelernt! Genau da fliegen wir jetzt hin.“

„Was ist denn da unten?“

Sina hat Schwierigkeiten, bei der Geschwindigkeit des Besens überhaupt zu atmen, geschweige denn zu sprechen. Es ist alles derart surreal, dass Sina sich nicht nicht einmal wundert, als der Berg, über den sie auf das Haus zufliegen, sich kurz… bewegt? So also würde er ihnen… zunicken? Die Bäume auf seinem Rücken erzittern kurz, als sie sie passieren und Sina hört ein tiefes Dröhnen.

„Da unten ist viel Vergangenheit“, ruft Beffaná. „Aber das ist eine ganz andere Geschichte. Deshalb sind wir jetzt nicht hier. Ich fürchte, ich hab nicht mal Zeit genug, dir unsere Werkstatt zu zeigen!“

Sie landet am Rand eines kleinen Wäldchens und führt Sina auf das Häuschen zu, das sie bereits von oben gesehen haben. Es ist von einer niedrigen Mauer umgeben. Beffaná begleitet Sina bis zur Haustür und fasst sie dann am Arm. 

„Das letzte Stück gehst du besser allein. Einfach durch die Tür, die kleine Treppe hinauf. Es ist das Zimmer hinten rechts.“

„Was ist denn da, Beffaná?“

Jetzt, wo Sina weiß, dass es sich bei Beffaná Bee Grimm tatsächlich um eine Hexe handelt, hat sie keine große Sorge mehr, dass die rothaarige Frau sie in eine wirklich gefährliche Situation hineinschicken würde. Dennoch zögert sie.

„Bee, was soll diese ganze Geheimniskrämerei?“

Beffaná setzt sich auf die Mauer. Sie überlegt. 

„Es ist einfacher, die geheimnisvolle Weihnachtshexe zu sein, als zuzugeben, was für einen riesengroßen Mist ich gebaut habe.“

Wieder zögert Sie.

„Das Wichteln, Sonntagnacht, das… das war ich. Ich dachte: ‚Hey, nichts einfacher als das! Geschenke verteilen, das ist doch mein Spezialgebiet. Ich hab im November das Los gezogen, und nachdem vorher ein bisschen viel zu tun war, hab ich mich Sonntagnacht noch mal richtig reingehängt. Nur hab ich vergessen, dass ich’s bisher immer nur mit Wesen zu tun hatte, die ihr doom, wie ihr es nennt, nicht mehr infrage stellen. Und dabei hab ich’s gerade bei Annika doch gewusst, dass sie wirklich hadert! Ich dachte, ich tue euch einen Gefallen, wenn ich Euch so ein bisschen auf meine coole Weihnachtshexen-Weise in die richtige Richtung schubse. Aber das war falsch. Annika, Ovid, Du…: Ich hatte wirklich gehofft, ihr nehmt die Sache anders auf. Ich glaube, dass ich Niklas Unrecht getan habe. Ich bin gar nicht die große ‚Checkerin’. Und womöglich ist er sogar der bessere Lehrer.“

Verdammt. Das ist die schlechteste aller Möglichkeiten, über die Sina bisher nachgedacht hat. Wenn Beffaná hinter den Geschenken steckt, dann bedeutet das, dass die Brille wirklich etwas mit ihrem doom zu tun hat. Denn Beffaná weiß offensichtlich mehr darüber, als Sina und alle anderen. Und das nicht nur bei Sina.

„Und Annika und Ovid…?“

„Vergiss es Sina. Das geht dich wirklich nichts an. Ich hab bestimmt auch Fehler gemacht, doch das ist nicht Deine Angelegenheit. Focus, Sina!“

„Bee, was ist da oben?“ 

„Geh und finde es raus…“

Das Haus ist menschenleer. Irgendwo im Erdgeschoss tickt eine alte Standuhr und die Treppe, die Sina hochsteigt, knarzt unter ihren Füßen. Die Zimmertür hinten rechts ist geschlossen. Das vergilbte Poster und ein paar alte Aufkleber lassen auf ein Kinderzimmer schließen, das schon lange nicht benutzt wurde. Sina öffnet die Tür. Tatsächlich ist das Zimmer mehr eine Abstellkammer als ein echter Wohnraum. Ein paar Kartons, alte Spielkisten, an den Wänden hängen Poster  alter Filme und Popstars, über dem Bett sind neben einer kleinen Sternkarte ein paar alte Sporturkunden angebracht. Zweite, Dritte, Fünfte Plätze. Niklas Sieg steht darauf. Fast tritt Sina auf einen alten Kassettenrekorder, der vor dem Bett liegt. Daneben türmen sich reihenweise von Hand beschriftete, selbst aufgenommene Kassetten. 

Niederlages Kinderzimmer. Warum schickt Bee mich in Niederlages Kinderzimmer?

Plötzlich rumpelt es. Sina erschrickt. Ist jemand unten im Haus? Doch das Rumpeln kommt von hier, aus diesem Zimmer. Es rumpelt noch einmal. Da! Es kommt direkt vom Bett.

„Hallo?“, ruft Sina. „Beffaná? Ist das wieder ein Scherz?“

„Beffaná“, grollt es unter dem Kinderbett hervor „Hat jemand „Beffaná gesagt? Wird auch Zeit, dass du mich mal besuchst!“

„Nein, ich, äh, ich bin Sina. Beffaná wartet unten. Sie hat mich hochgeschickt.“

„Ah. Ja. Sina. Niklas hat mir schon von dir erzählt. Schreist du einfach einen Lehrer an… Sina! Der Junge lernt doch noch. Hab ein bisschen Nachsicht mit ihm! Aber lass dich mal anschauen!“ Die Stimme gluckst vergnügt. „Als könnte ich noch richtig sehen… Aber wenn du mich anschauen möchtest: Da in der obersten Schublade liegt noch irgendwo Niklas’ Spirituskop. Eine Brille, mit der er mich sehen kann. Ich bin übrigens Stunk! Beffaná sagt, ich kann dir helfen. Mit deinem doom. Das ist nicht so schwer, Sina! Wir Bettenmonster halten zusammen, oder? Ich freu mich jedenfalls wahnsinnig, dich kennenzulernen!“