Dienstag, 12. Dezember: Winterspiele

Den Begriff „angepflaumt werden“ hat Sina nie richtig verstanden. Was soll das heißen, „anpflaumen“? Sina mag Pflaumen. Lieber auf Kuchen als in der Marmelade, okay. Aber wieso sollten Pflaume, in welcher Form auch immer, etwas negatives sein? 

Wie gut, dass Sina auf einem der besten Internate des Landes ist (so steht es zumindest in der Broschüre). Ein Internat ist letztlich eine Schule, Schulen sind zum Lernen da, und Sina lernt eine Menge auf Krahenstein. Die Sache mit dem „Pflaumen“ zum Beispiel.

Die erste Lektion gibt es am Dienstag noch vor der ersten Stunde. Sina hat fast gar nicht geschlafen. Das ist einer dieser Sätze, die man häufig irgendwo liest oder hört, und fast nie stimmt er. Denn natürlich schlafen Leute. Sie schlafen schlecht, das schon, und manchmal schlafen sie mit vielen Unterbrechungen und wachen viel zu früh auf. In all diesen Dingen ist auch Sina zu einer der führenden Expertinnen des Landes geworden. Aber heute Nacht hat sie, außer einmal zwischen fünf und halb sechs Uhr morgens, wirklich gar nicht geschlafen.  

Das, was gestern passiert ist, war viel zu außergewöhnlich, als dass Sina in der Nacht danach einfach schlafen konnte. Sie hat Niederlage angeschrien und war danach mit Annika im Panikraum verschwunden. Und allein das hatte eine Wirkung, als hätte jemand in ein Wespennest gestochen. Niederlage hat sich sofort krank gemeldet. Döpfner hatte die gesamte Klasse in Werte und Normen fast die gesamte Unterrichtsstunde angeschrien und die Laune im Schlaftrakt war bis zum Abend aufgekratzt und angekotzt. 

Sina, Annika und auch Ovid, der später im Panikraum aufgetaucht war, ist zu Sinas Überraschung bisher nichts weiter passiert. Und das konnte Annika, die sich bis zum Abend einigermaßen gefangen hatte, auch erklären: 

„Klingt zwar blöd, aber du hast dich genau an die Regeln gehalten: Wer ausrastet, geht in den Panikraum. Genau das haben wir gemacht.“

„Aber ich hab Niederlage angeschrien.“

„Da bist du nicht die erste. Außerdem: 

‚Über mögliche Sanktionen für Fehlverhalten der Schüler*innen entscheidet die Vertrauenslehrkraft nach eigenem Ermessen.‘ 

Und der Vertrauenslehrer ist…?“

„Niederlage. Wann er wohl zurückkommt?“

„Soll er bleiben, wo der Pfeffer wächst. Nacht Sina. Danke für heute. Und versuch zu schlafen.“ 

Das hat nicht funktioniert.

Schon um viertel nach acht Uhr morgens sitzt Sina vor dem Büro von Dorothea Döpfner und wartet. Döpfner ist die einzige aus dem Lehrer*innen-Kollegium, die weiß, dass Beffaná Grimm hier irgendwo in der Schule ist. Und Sina hofft, dass sie ihr sagen kann, wo genau. Grimm hat sich seit Freitag nicht mehr blicken lassen. Dabei gibt es ein paar äußerst wichtige Sachen aufzuklären. Sina ist zu 99,9 Prozent sicher, dass Grimm hinter den Wichtelgeschenken steckt, denn wer sollte es sonst sein?

Und damit hat sie eine Menge Unheil angerichtet. Bei Annika, bei Ovid und auch bei Sina selbst. Außerdem muss Grimm erklären, was das Treffen mit Niederlage am Wochenende bedeutet hat. Und ganz nebenbei könnte sie auch dabei helfen, zwei, drei andere Rätsel der letzten Tage aufzuklären.

Sina ist ernsthaft überrascht von sich selbst. Ist sie nicht ist das Mädchen, das stundenlang vor der schwarzen Tür wartet? Sie ist keine schreiende Furie, die Niederlage in die Krankmeldung brüllt. Und auch nicht die Schülerin, die ohne Termin bei ihrer Direktorin vor der Tür sitzt. Und trotzdem ist sie jetzt genau hier, viel zu müde um klar zu denken, und viel zu aufgebracht, um wieder zu gehen.

„Was macht du hier, Sina? Habt ihr nicht Sport?“

„Ich muss dringend wissen, wo ich Bee…, also Beffaná finde. Es ist sehr wichtig, Frau Döpfner. Und sie sind die einzige, die wissen könnte, wo sie ist.“

„Ich hab nicht die geringste Ahnung. Und du, junges Fräulein, musst dich beeilen, sonst kommst du zu spät zu deinem Unterricht.“

Oh, oh, oh. Ganz dünnes Eis. Sina spürt es genau: Ein falsches Wort, und der Vulkan vor ihr, die Frau mit den gelben Zigarettenfingern und der verunglückten Montagmorgenfrisur explodiert. Aber was ist die Alternative?

„Ich beeil mich, versprochen, aber ich muss Beffaná wirklich ganz dringend…“

„Ich sag dir, was du musst!“

Krawumm. Der Vulkan spuckt Lava. Na großartig…

„Du musst sehr genau aufpassen, dass du Weihnachten noch an dieser Schule erlebst! Du hast das noch nicht verstanden, junge Dame, aber diese Schule ist mehr als eine woke Sina-Heilanstalt mit Wellnessgarantie! Was wir hier machen, Zuckerpüppchen, ist knallhartes Überlebenstraining für Monstrositäten, die vor ein paar Jahren noch auf einer Kirmes ausgestellt oder auf einem Scheiterhaufen verbrannt worden wären! Dein Thema, Sina, ist nicht Beffaná Grimm. Dein Thema ist: Wie überlebe ich in einer Welt, in die ich nicht hineinpasse. Ist das klar? Als wäre die Scheiße mit der Erpressung der Schule nicht schon schlimm genug!“

Sina zieht den Kopf ein, doch Döpfner ist noch nicht fertig.

„Und hör gefälligst auf, meine Lehrer kaputtzumachen! Euer Dr. ‚Niederschlag‘…“

„Niederlage“

„Eurer… ‚Niederlage‘…. stimmt, das ist viel besser…, euer ‚Niederlage‘ ist das Einzige, was ich euch Pflaumen gerade bieten kann! Du hast ihn krank gemacht! Lass das, Sina! Ich bezahle ihn, ich entscheide, was mit ihm passiert!“

Rumms. Tür zu, Frau Meinecke, die Sekretärin versteckt sich hinter ihrem Bildschirm und bewegt sich nicht, bis Sina das Zimmer verlässt.

Lektion „Angepflaumt werden – die zweite“ folgt nur kurze Zeit  später im Sportunterricht. 

Rogé Patzke ist ein kleiner, untersetzter Mann, der Sport liebt und Schüler*innen hasst. Betül sagt, dass Patzke die schwarze Klasse ganz besonders hasst, weil er in den Mitgliedern der Family einen riesengroßen Haufen verschenktes Potential sieht. 

Patzke ist eingeweiht, er weiß also, mit wem er es zu tun hat, und Sina kann sich gut vorstellen, dass eine Gruppe wie die Schwarze Klasse eigentlich der Traum für einen wie Patzke sein könnte. Klar: Du kannst die Family als eine Ansammlung von Problemen und Komplexen betrachten. Patzke dagegen sieht eine Reihe von hochbegabten Supermenschen, die ganz ohne Doping Unglaubliches leisten können. Könnten. Allein schon Ola. Ola ist nicht nur Mitglied der Roswitha-Gang. Ola ist auch ein Werwolf. Ein diverser Werwolf, okay, aber dennoch ein echter, superkrasser, megagefährlicher Werwolf. Sina waren bereits an ihrem ersten Wochenende  Olas kleine, hagere Statur und ihre blutunterlaufenen Augen aufgefallen. Irgendwann zwischendurch ist Betül dann Olas doom mehr oder weniger rausgerutscht

Doch heute merkt Sina, was es bedeutet, einen Werwolf in der Klasse zu haben. Beziehungsweise: Was es bedeutet, einen unmotivierten, müden Werwolf in der Klasse zu haben, der von Rogé Patzke fortwährend angepflaumt wird (angepflaumt, da ist das Wort wieder!). Denn Ola bekommt überhaupt nichts auf die Reihe.

„Ola, du Pflaume! Jetzt versuch doch wenigstens den Zottel zu schlagen!“

 Der Zottel ist Ovid. Es ist knapp über null Grad und Patzke hat die Inklusionsklasse, die 9a und die 10a auf dem Sportfeld hinter der Schule antreten lassen. Der Schnee ist zwar notdürftig geräumt, doch nass und rutschig ist es dennoch.

Sina hört von den anderen, dass er das jedes Jahr macht. Ein- oder zweimal im Dezember schickt Patzke seine Sportklassen nach draußen in die Kälte. Er nennt es „Winterspiele“, die Schüler*innen nennen es Qual. Die Sportarten sind unterschiedlich, heute ist es der Querfeldeinlauf auf einem extra von Patzke abgesteckten Rundkurs um das Sportfeld. Das System ist immer ähnlich. Erst lässt Patzke die Klassen untereinander antreten, den finalen Lauf machen die Sieger*innen der drei Klassen unter sich aus.

Sina hat, wie die meisten aus ihrer Klasse, gar nicht erst versucht, die 7 Kilometer durch die Kälte zu laufen. 7 Kilometer!!! Über Buckelpiste zwischen den Schneehaufen!!! Das geht weit über Sinas Vorstellungsvermögen und sie bricht auf der Hälfte ab. Nur Rico, Hannes, Ovid und Ola halten es überhaupt bis zum Ende durch und letztlich entscheidet sich das Rennen zwischen Ola und Ovid. Die beiden mögen sich, selbst jetzt spürt Sina, dass es keine Rivalität zwischen ihnen gibt. Ovid will einfach nur seinen Frust über gestern rauslassen und Ola… Ola sieht aus, als würde es ihnen einfach nicht gelingen, noch langsamer zu laufen. Sina hat es überprüft: Vollmond ist erst wieder nach Weihnachten, aber das bedeutet nicht, dass ein Werwolf nicht auch in der Zeit dazwischen verdammt schnell ist.

Die beiden feixen. Ovid grinst und rennt dabei, als ginge es um sein Leben, Ola trabt neben ihm und erzählt irgendwas. Wahrscheinlich anzügliche Witze über Patzke. Ovid muss aufpassen, nicht loszulachen. Als die beiden endlich auf die Zielgerade einlaufen, verlangsamt Ola deutlich und lässt Ovid gewinnen.

„Dir Idiot ist schon klar“, ruft Ola ihm hinterher, „dass du gleich dieselbe Strecke noch mal gegen die Aliens laufen musst?“

Die Aliens, die ebenfalls zuschauen, werfen sich fragende Blicke zu. 

‚Hat denen noch nie jemand gesagt, wie wir sie nennen?Himmel, wie die dummen Schäfchen auf dem Weg zu Schlachtbank‘ denkt Sina, wickelt sich enger in eine der Decken, die Patzke gnädigerweise am Rand bereitgelegt hat und trinkt aus einer der bereitgestellten Thermosflaschen. Sie hat gesehen, wie die Alien-Klassen gegeneinander gelaufen sind: Selbst Ovid wird sie vernichten, das ist völlig klar..

Patzke ist stinksauer. Er nimmt Ola beiseite und schimpft mindestens eine Minute auf sie ein, auch hier fällt wieder das Wort „Pflaume“. 

„20 Minuten Pause!“, pampt Patzke schließlich. „Und dann laufen Coppenbrügge, Wandsbek, Ovid UND Ola gegeneinander. Ich lass mich doch nicht verarschen!“ 

Viola Wandsbek und Conrad Coppenbrügge, die Läufer*innen aus der 9a und der 10a, sehen nicht besonders glücklich aus. Ovid und Ola zucken mit den Achseln und holen sich feixend eine Decke.

Der Anfang des Rennen läuft wie erwartet. Die beiden Aliens versuchen, das Schlimmste zu verhindern. Ovid und Ola bleiben hinter ihnen und singen die Marseillaise, die französische Nationalhymne. Die haben sie gerade bei ihrem Französisch- und Musiklehrer Jobst Birnbaum im Unterricht, und Sina findet, sie singen gar nicht schlecht. Besonders Ovid. 

Dann geschieht jedoch, womit niemand gerechnet hat: Die Aliens werden schneller. Zunächst nur ein bisschen und Sina sieht Viola und Conrad ihre Freude an. Dann jedoch wird es noch schneller, sehr viel schneller, und langsam dämmert allen, dass irgendetwas nicht stimmt. Auch Ola und Ovid sind überrascht, halten dann aber an und winken ab.

„Zaubertrank!“, ruft Ovid. „Respekt Leute!“

Er und Ola heben beide Daumen, gehen zum Rand der Laufbahn und holen sich eine Decke. In diesem Moment werden sie von den Aliens bereits das erste Mal überrundet. Die beiden sehen überhaupt nicht mehr überrascht aus, sondern ehrlich erschrocken.

„Ich… kann…nicht… anhalten!“, schreit Viola, dann ist sie schon wieder außer Hörweite auf der anderen Seite des Feldes.

Auch Patzke ist inzwischen alarmiert und baut sich vor der Family auf:

 „Wer auch immer das gemacht hat“, zischt er, „hört sofort auf damit! Das ist gefährlich!“

Alle schauen sich fragend an.

„Wir waren’s nicht“, dröhnt Roswitha. „Niemand hier weiß, was los ist.“

Roswitha haben recht, Sina kann es spüren. Da ist nur die Angst der Aliens und die Überraschung der Klasse.

Die Aliens sind inzwischen so schnell, dass ihre Beine zu fliegen scheinen.

„Hilfe!“, schreit Conrad, Viola kann nur noch panisch gucken, dann ist sie schon wieder vorbei.

„Potzblitz! Kann man nicht einmal in Ruhe seinen Bruder besuchen, ohne dass hier alles in die Binsen geht?“

Wie ein Tornado kommt Grimm auf ihrem Besen hinter dem Wald hervor geflogen und passt ihre Geschwindigkeit den beiden Alien-Läufer*innen an. Doch sie bekommt sie nicht zu fassen.

„Ovid, Ola“, ruft sie, „setzt euch in Bewegung!“

Die beiden schauen sich fragend an und trotten zur Laufbahn.

„Ich kann sie vielleicht verlangsamen!“, ruft Beffaná, „aber irgendjemand muss sie festhalten! Rennt los!“

Sina sieht, dass Beffaná mit aller Macht die Aliens zu stoppen versucht. Dabei sitzt sie auf ihrem rasenden Besen und zieht mit einer Hand wie an unsichtbaren Marionettenfäden in der Luft. 

Ovid und Ola geben alles, doch das reicht nicht. Sie passen die beiden Aliens von der Seite der Laufbahn ziemlich exakt ab, doch bald sind sie schon wieder vier, fünf Meter hinter ihnen.

„Keine Chance!“ ruft Ovid. 

„Verdammte Elefantenkacke!“ 

Die Hexe scheint sich kurz zu sammeln, Sina spürt eine Konzentration verschiedenster Gedanken, Gefühle, Erinnerungen und Wünsche und dann steht die Hexe freihändig auf ihrem Besen. Sie streckt die Arme in die Luft und dann wird es stockdunster. Nicht nur das: Die Scheibe eines  riesigen Mondes geht über der Schule auf und Grimm lacht:

„Ola, mach dein Ding und schnapp sie dir!“

„Olas Ding“ ist beeindruckender als alles, was Sina bisher auf Krahenstein gesehen hat. Das schmächtige Persönchen richtet sich zu einem mageren, hünenhaften Wesen auf, das ein langes Heulen ausstößt und dann mit riesigen Sätzen den Aliens hinterher springt. Conrad erreichen sie als erstes: Mit ihren mächtigen Fangzähnen schnappen sie ihn an seinem Shirt und werfen ihn mit einer einzigen Kopfbewegung an die Seite, mitten in Grüppchen kreischender Aliens. Dann ist Viola dran. Der erste Versuch misslingt, Violas Shirt fliegt zerfetzt zur Seite und die Alien-Schülerin rennt schreien weiter. Beim nächsten Anlauf setzt  sich der Wolf direkt neben sie und rammt sie mit voller Wucht in einem hohen Bogen in die Luft. 

Ola stoppt und heult noch einmal durchdringend, während Beffaná den Aliens, der schwarzen Klasse, Herrn Patzke und Sina beweist, dass sie die Tochter des Windes ist und der verwegensten Hexe aller Zeiten: Der wahnsinnigen, der mutigen, der einzigartigen Leah Grimm.

Viola rast auf den Boden zu und landet im letzten Moment auf Grimms Besen. Sina schaut sich um: Mehrere Aliens brechen atemlos zusammen und zum ersten Mal heute pflaumt Roger Patzke niemanden aus der Schwarzen Klasse an, sondern ein paar   „zimperlich-verkorkste“ Alien-Kinder.