Sonntag, 10. Dezember: Wichteln mit Hindernissen

„Was ist das mit diesen Briefen, Leute?!“
Sina schlägt mit der rechten Hand nach hinten und erwischt Kess am Kopf.
Sie hockt reichlich unbequem an die Sphinx gelehnt in der hinteren Ecke ihres Zimmers und zerknüllt das gefühlt zehnte Blatt Papier.
„Außerdem funktioniert der Stift nicht richtig! Annika, kann ich einen anderen haben?“
„Ich hab eine Idee, Sina: Setzt dich an den Schreibtisch, da kann man ganz toll schreiben.“
Annika wirft Sina einen Stift zu.
„Mach den nicht auch noch kaputt. Ist mein drittbester.“
Sina ignoriert das.
„Hast du auch einen Zettel. Hab keinen mehr.“
Ein Block fliegt auf sie zu, sie duckt sich und er knallt der Sphinx ans Ohr.
„Ey! Kess kann nix dafür!“
„Wieso schreibst du überhaupt einen Brief?“, fragt Annika. „Noch sechs Tage, und deine Eltern können dich besuchen! Außerdem kannst du ihnen dann auch texten.“
„Weil ich’s jetzt schreiben will. Und Brief ist irgendwie erwachsener.“
„Ey! Aber du brauchst Stifte und Zettel“, sagt Betül. „Und die ganze Logistik wie Umschläge und Briefmarken und Briefkästen und die richtige Adresse mit Straße und Hausnummer und Postleitzahl…“
„Es ist meine eigene Adresse, Betül. Krieg ich gerade noch so hin.“
„U-HUND, wenn du das alles hast, sind am Ende alle total fixiert auf diese Rechtschreibung!“ruft Betül. „Am Ende muss du stundenlang diskutieren, warum du nicht weißt wie Kettenkarussell geschrieben wird. Ehrlich: Schon das macht mich total fertig!“
Betül steht vor dem Kleiderschrank und probiert Klamotten für heute Abend an. Im Moment trägt sie einen roten Trainingsanzug und weiße Adiletten
„Ja.“, sagt Sina. „ Stimmt. Trotzdem. Ich muss das irgendwo hinschreiben. Es war nicht okay von ihnen, mich völlig ahnungslos hierhin zu schicken. So geht man in einer Familie nicht miteinander um.“
Betül setzt sich neben Sina und nimmt sie in den Arm.
„Und wie geht man miteinander um? Schreibt man sich lieber diese beknackten Erwachsen-Briefe, damit man die ganze Scheiße hundert Jahre in Schubladen aufbewahren kann? Und immer wenn ihr Streit habt, könnt ihr sie wieder rausholen, um euch über den Beef von vor hundert Jahren zu ärgern?“
‚Tja. Guter Punkt. Aber…‘ Sina denkt nach. ‚Nix aber! Betül hat Recht! Punkt.‘
Sie steht auf, gibt Annika ihre Schreibutensilien zurück und inspiziert Betüls Klamottenauswahl auf dem Bett.
„Apropos gute Ratschläge, Betül. Hat mal jemand mit dir über Fashion-Style geredet? Ich liebe deine… Unabhängigkeit , aber manche deiner Kombis… machen… manchmal… Augenkrebs. Echt!“
Betül lächelt müde. Und nimmt sie dann noch mal in den Arm. Anders dieses Mal. Sie umarmt Sina mit ihrem gewaltigen Körper und Sina spürt eine tiefe, abgrundtiefe Traurigkeit.
„Klopfmenschen, Sina, sie sind…“
„Leute!“ Annika stöhnt auf. „Normalzeit! Oder ich gehe!“
„Klopfmenschen sind unsichtbar. Verstehst du? Immer. Niemand weiß, wie lange es noch dauert. Aber bald… irgendwann… gibt es keine Farben mehr für mich. Das…“ sie schluchzt kurz auf, „…das ist das Allerschwerste. Ich mag Farben. So sehr! Und solange es noch irgendwie geht, werde ich sie tragen. Und am liebsten alle gleichzeitig!
Dann drückt sie sie Sina so fest, das es ihr fast die Luft abdrückt. „Und, Sina, wir wissen ja nicht, was mit dir mal wird, aber das sieht doch so aus, als…, als… könnte das bei dir genau sein.“
Stimmt. Sina steht in ihrem Zimmer, umarmt von Betüls riesigen Pranken und versucht ihre Gedanken zu ordnen. Betül hat Recht. Ja, sie ist jetzt auf Krahenstein. Doch das Chaos ist noch lange vorbei. Vielleicht beginnt es gerade erst. Das ist es, warum sie alle hier sind. Betül hat es vor ein paar Tagen auf der Treppe zum Türmchen Transformation genannt. Die Schule soll ihnen dabei helfen, diese Transformation zu überstehen, ohne dass jemandem etwas Schlimmes geschieht.
Sina spürt, wie sich ein weiteres Paar Arme um sie schließt.
„Alle für eine“, sagt Annika. „Alle für eine.“

Odette ist wieder da.
‚Krass!‘, denkt Sina. ‚Wie kann ein Persönchen wie Odette ein Poltergeist sein? Vielleicht wird sie erst noch einer. Andererseits sagt Becca, dass sie jetzt schon manchmal eine Scheißangst vor Odette hat, abends allein im Zimmer. Und Becca ist eine, Sina hat den Fachbegriff vergessen, Menschenfresserin. Wenn eine Menschenfresserin Angst vor Odette hat, alter Schwede….‘
Nach dem Frühstück versammeln sich die Musketiere um Becca, Ana und Odette und Odette erstattet mit ihrem dünnen Stimmen Bericht:
„Er ist schnurstracks in ein Parkhaus gegangen, kurz nachdem Becca sich auf den Rückweg gemacht hat. Da war es kurz nach neun, halb zehn Uhr abends. Es war stockdunkel und mega-kalt. Brrrrr.“
‚Interessant‘, denkt Sina. ‚Doch nicht so taff, die Kleine.‘

„TAFFER ALS DU, SCHWEIZERKÄSE!“

Sina schüttelt es durch und durch!

Odettes Stimme ist völlig verändert, nur für eine Sekunde. Tief, durchdringend, markerschütternd.
„Ja, gibt auch andere, die in Köpfe reingucken können, Sina. Hilft später im Beruf.“
„Okay. Sorry!“ Sina schaut auf Odettes schmächtigen Körper, beißt sich auf die Lippen und versucht an gar nichts zu denken. Gipskarton. Gipskarton. Gipskarton!
Odette mustert sie kurz von der Seite, dann erzählt sie weiter.
„Auf dem oberen Parkdeck hat er sich mit jemandem getroffen. Schwer zu erkennen aus der Ferne. Und ich konnte nichts – gar nichts! – spüren. Haben lange geredet. Papiere ausgetauscht. Punkte auf Listen abgehakt. Ich hab versucht mein… Ding zu machen, bin aber nicht rangekommen. Irgendwas war seltsam an der anderen. Ja, ich glaube es war eine Frau.Ich wusste, sie ist garantiert eine wie wir, hatte aber keine Ahnung, was genau. Sie war mächtig, eine uralte Zauberkraft, das habe ich gespürt. Und Sieg, oh, ihr hättet ihn sehen müssen! Total anders! Super sweet! Der steht diesem Wesen gegenüber und ist völlig entspannt! Überhaupt nicht unser kleiner, süßer Doktor! Redet mit ihr wie mit einer Schwester. Oder einer uralten Freundin. Konnte nicht viel verstehen, aber manchmal haben sie diskutiert und er hat völlig relaxed Contra gegeben. Ohne zu stottern. Ich konnte ihn nicht gut lesen, aber wenn ihr mich fragt, dann ging’s einfach um Weihnachtsgeschenke. Thats it! Uns jetzt kommt’s: Als sie fertig sind, wird’s völlig weird. Sie schnappt sich einen Besen und sie fliegen ZUSAMMEN los. Einfach weg! Alter, Leute, unserer lieber Dr. Sieg datet eine Hexe! Und ich… bin am Boden zerstört.“
Nein ist sie nicht, denkt Sina, erntet aber sofort einen bösen Blick von Odette.
Natürlich hat Sina einen sehr, sehr klaren Verdacht, wer das war, aber in Odettes Nähe… Gipskarton, Gipskarton, Gipskarton!!!!
Odette grinst diabolisch.
„Schon gut, Schweizerkäse, ich bin raus…“
„Und heute morgen…“, sagt sie zu den anderen, „War er dann total süß! Hat mich gesehen und ‚Guten Morgen, Odette‘, gesagt. Und ich so: ‚Hallo Herr Dr. Sieg!‘ Und dann er: ‚Ich hab mir schon ein bisschen Sorgen um dich gemacht.‘ Zum Schmelzen! Unser lieber, süßer, kleiner Doktor. Hach. Schade, Aber gegen eine echte Hexe, da muss ich passen. Noch. Bis ich sie in ein paar Jahren
AUSRADIERE!“
Im Zimmer wird es kurz duster und das Licht flackert. Odette lächelt und dreht sich zur Tür um.
‚Komm Becci, du wolltest mir deine neuen Funko-Pop-Figuren zeigen.“

Beim Mittagessen ist Annika völlig entspannt. Die Hähnchenkeulen können nicht der Grund sein, sie verströmen einen sonderbaren Schweißgeruch, und niemand isst mehr als zum Überleben nötig ist. Sina schaut sich um: Außer Rico und Hannes, die beide Elternbesuch haben, sind alle da. Wochenendbesuch scheint kein großes Ding in der Schwarzen Klasse zu sein…
„Was ist los, Annika?“, fragt sie. „Ich weiß noch: Letzten Sonntag sah’s echt anders aus bei dir.“ (‚Und fühlte sich auch so an‘, denkt sie.) Musst wohl heute Abend auch nichts erzählen, oder?“
„Nee! Heute ist zweiter Advent, Sina. Beffaná-Tag!“
Ach ja, stimmt. Die Sache.
„Dann erzähl mal. Wieder eins von den Events, von denen ich hier zufällig erfahre. Obwohl’s für alle anderen ein Riesending ist…“
„Blödsinn. Die Auslosung war nur schon vor einem Monat. Da warst du noch gar nicht da. Du bist also raus.“
„Wobei: raus? Erzähl schon!“
„Jedes Jahr ist eine*r von uns Beffaná, die Adventshexe. Aber niemand weiß, wer. Und bis zum zweiten Advent verteilt der oder die Beffaná kleine Geschenke an wen auch immer. Darf aber nix Gekauftes sein! Und am besten ist es natürlich, wenn die Geschenke richtig gut passen. Das ist gewissermaßen die hohe Kunst bei Beffaná-sein. Und beim Abendmeeting heute erraten wir, wer’s ist.“
Betül setzt sich zu ihnen an den Tisch. Sie hat sich erfolgreich Milchreis in der Küche organisiert und schaufelt ihn in sich hinein, während sie spricht:
„Nur dass Annika eine riesige Competition daraus macht! Sie erzählt nicht, wenn sie bewichtelt wurde, macht sich dauernd Notizen und ist beim Meeting natürlich die erste, die errät! Und natürlich kriegt Beffaná dann auch noch Stilkritik. Total subtil. Wie gut die Geschenke waren, wer auch noch Geschenke verdient gehabt hätte…“
„Vielleicht bin ich’s dieses Jahr ja selber, Betulia!“
„Dann hättest du nicht zwei Notizblöcke mit dem Titel Beffaná vollgeschrieben. Sondern zwanzig. Mindestens. ANNI-MAUSI!“, mampft Betül und geht noch eimal Nachschlag holen.

Die Stimmung vor dem Meeting ist ausgelassen. Es hat geschneit draußen und diejenigen, die am Sonntagnachmittag in Krahenstein geblieben sind, haben eine Schneeballschlacht veranstaltet. Als ein paar Aliens sich beschweren wollten, wurden sie von Rico, Chris und Ola mit einer derart furchterregenden Schneeballkanonade in die Flucht geschlagen, dass sie sich seitdem nicht mehr aus ihrem Neubau heraustraten.
Auch für das Abendmeeting ist Entspannung angesagt. Schrottwichteln steht auf dem Plan. Klingt ein bisschen zuuu schön, denkt Sina, und der erste Downer kommt bereits vor Anfang der Stunde. Neben Niederlage steht, wie letzte Woche, Döpfner.
„Was will die denn hier?“, flüstert Ana und macht überraschend echte wirkende Kotzgeräusche.
‚Klar.‘ Sina grinst. ‚Zombies sind echt gut in ekligen Geräuschen’ Odette huscht nickend an ihr vorbei zu ihrem Platz neben Becca und Sina schiebt den Gedanken beiseite.
Das Meeting beginnt mit „ein paar offiziellen Ansagen der Direktorin“ wie Niederlage es ausdrückt, bevor er an „die liebe Dorothea“ weitergibt. Wie immer bei Nennung dieses Namens bricht Betül kichernd in sich zusammen und auch „die liebe Dorothea“ versucht Niederlage mit einem Blick zu töten.
„Inklusionsklasse!“, sagt sie dann und stellt sich vor die Tafel. „Keine Sorge, ich bin gleich wieder weg. Zwei Ansagen von der Schulleitung:
Erstens – unsere Kunstlehrerin Frau Liebetruth verlässt uns. Bereits nächsten Donnerstag bekommt ihr einen Ersatz. Wir sind noch in Gesprächen, aber ich bin sehr optimistisch, dass es keinen Unterrichtsausfall geben wird. Zur Causa Liebetruth kann und will ich nicht viel sagen, nur das: Reißt euch ab jetzt wirklich zusammen Leute! Lehrkräfte wachsen nicht auf Bäumen! Der Job ist hart und es finden sich kaum neue Leute, die sich das antun. Behandelt den oder die Neue gut, ich rat’s euch! Sonst übernehme ICH den Kunstunterricht! Verstanden?“
Die Klasse stöhnt auf, Jemand kichert. War das etwa Ben? Kann nicht sein, oder? Sina kann es nicht eingrenzen. Döpfner haut gegen die Tafel.
„Ruhe! Zweitens: Das, was ich euch jetzt sage, bleibt in diesem Raum. Ist das verstanden? Ich erzähle es euch, weil es Euch und Eure Eltern direkt betrifft und weil ihr Zeugen der letzten Eskalation geworden seit: Die Schule wird erpresst. Dabei geht es nicht um Geld, es geht um Euch! Der oder die Erpresserin fordert die Schließung der Inklusionsklasse. Es gab bereits erste Anschläge und wir können sie nun auch zuordnen :Die Sache mit von Stöckendorf am Vertretungsplan, Haldersleben vor ein paar Wochen und – last not least – die Läuse drüben bei den Alie… drüben im Neubau…“ Die Klasse kichert. „Ja, alles sehr lustig. Doch die Schülerinnen, die hier zu Schaden kommen, sind auch diejenigen, die Euch DIESE GANZE SAUSE HIER BEZAHLEN! Und wenn der Elternbeirat, den ich laut Satzung der Krahenstein-Stiftung, spätestens morgen über die Vorfälle informieren muss, wenn dieser Beirat auch nur ein bisschen Hirn hat, dann werden die Damen und Herren mich fragen, was genau in dieser Inklusionsklasse vor sich geht, warum ihre Abschaffung gefordert wird und ob das vielleicht eine ganz gute Idee wäre!“
Sina schaut sich um und versucht, die Stimmung zu lesen. Sie sieht Unglauben und was sie spürt ist eine Mischung aus Lähmung und Angst.
„Und ich vor ihnen stehe“, fährt Döpfner fort, „Dann muss mir sehr gut überlegen, was ich Ihnen darauf antworten soll. Wozu brauchen wir eine Inklusionsklasse? Bisher hatte ich immer den Stiftungsvorstand auf meiner Seite und solange das der Fall ist, kann der Elternbeirat beschließen, was er will. Er interessiert mich nicht.
Aber eins ist auch klar: Irgendwer muss das hier alles bezahlen, und das sind, mit Verlaub, nicht Eure Leute. Das sind die Familien auf der anderen Seite des Schulhofs!“

„Warum erzähle ich Euch das alles?
A.: Damit es nicht noch weiteren Ärger gibt. Bis Weihnachten möchte ich nichts mehr von Euch hören, Klasse. Ist das klar?
B.: Unter Euch sind einige, die über bestimmte… Fähigkeiten verfügen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass solche Stunts wie mit von Stöckendorf am Vertretungsplan ablaufen, ohne dass irgendwer was mitbekommen hat. Ich gehe nicht davon aus, dass der oder die Erpresserin aus euren Reihen kommt. Was hättet ihr davon… Aber: Wenn immer ihr irgendetwas hört, etwas seht oder was immer eure Freak-Hirne noch so können, dann seit ihr PRONTO bei mir im Office und sagt es mir. Verstanden?
Gut. Ich bin ab jetzt vorm Fernseher, morgen wird eh die Hölle. Macht jetzt eurer…. Wichtel-Advents-Beffaná-Dingsi. Whatever. Merry Dingsbums.“
Die Schwarze Tür knallt und Döpfner ist verschwunden. Niemand sagt ein Wort.
Irgendwann steht Niederlage auf und breitet sein Arme aus.
„N-nächster Punkt L-leute? B-beffaná-Tag?“
Annika meldet sich, spricht dann aber ohne abzuwarten.
„Können wir verschieben? Ich find’s doof gerade.“
Mehre Leute nicken, schließlich steht die Fünfer-Bande auf und Roswitha öffnet die Klassentür.
„Is gerade nicht die Zeit für Beffaná. Nacht Leute.“
Dann gehen sie und nach und nach folgen auch die anderen.