Tief unter allen Fundamenten
Allen Wurzelflechten lenken
Dunkle Tunnel eine Herde
Alter Schrate durch die Erde
Und in einem dieser Gänge
Sitzt in wohl geschützter Enge
Wie im Bauch des Bienenstocks
Ein Nachtschratweibchen namens Phlox
Kaum bewegt ein flaches Atmen
Ihre Brust beim langen Warten
Auf den einen kurzen Tag
An dem sie oberirdisch jagt
Doch plötzlich beben ihre Nüstern
Und der Schrat beginnt zu flüstern

„Eine Witterung von oben
Hat sich seltsam schnell verschoben
So, als sei ein Doppelgänger
Unterwegs.“ Und im Gedränge
All der Düfte und Gerüche
Kommt sie all dem auf die Schliche
Phlox schlüpft durch den dunklen Bogen
Wo ein Luftzug sich verzogen
In die tiefste, dunkle Ecke
Ins Geheimste der Verstecke
„Es ist Zeit“, sagt sie beklommen
„Sie ist da. Sie ist gekommen.“

„Hört mich an!“ ruft Phlox im Stillen
In die Köpfe ihrer vielen
Artgenossen. „Ich werd gehen,
Nach der Weihnachtshexe sehen.“

Die Erde ist im Koordinatensystem des Universums um ein halbes Grad nach links verschoben und das ist das Allererste, was Beffaná an jedem Morgen denkt, wenn sie erwacht. Ihren Unterschlupf hat sie auf dem Rücksitz eines alten Autos auf einem Schrottplatz gefunden. Es ist ein idealer Ort, um nicht aufzufallen, denn außer ein paar Hunden lässt sich niemand hier blicken. Die Hunde halten respektvoll Abstand. Die ältesten von ihnen sagen, der Geruch der Fremden erinnere sie an einen der legendären Wölfe, die es früher gab. Außerdem ist das Auto durch eine unsichtbare Wand geschützt. Jedes Tier, das sich ihm nähert, trottet mit hängendem Kopf zurück und hat vergessen, was es dort überhaupt wollte.
An den schönen Tagen steift die Hexe ruhelos durch die Stadt, immer von Parkbank zu Parkbank und schnuppert von Zeit zu Zeit nach dem Wind. Manchmal, da riecht sie ihn, da ist sie sich sicher. Manchmal, da glaubt sie ihre eigene Stimme zu hören, irgendwo weit oben, und dann verzieht sie sich schnell in eine Hausecke oder ein Geschäft. Beffaná traut sich nicht, all die Plätze aufzusuchen, die sie in ihrer Stadt am liebsten mag. Denn das erste Wiedersehen mit einer alten Freundin, einem bekannten Gesicht, wird die Entscheidung, die sie vor Wochen auf dem Weihnachtsmarkt getroffen hat, irgendwie endgültig machen. Dann wäre sie offiziell hier angekommen, wäre offiziell Teil dieses Ortes und dieser Zeit.
Inzwischen ist es Frühling, der Weihnachtsmarkt ist längst abgebaut und die Übernachtungen im Auto sind bequemer geworden. Beffaná hat noch nicht entschieden, wie es weitergehen soll, ob und wie sie sich dem Wind, ihrem Vater nähert. Zunächst reicht ihr, dass sie ihn gelegentlich spürt, wenn sich die Wipfel der Bäume in einem unregelmäßigen Rhythmus nach Süden neigen. An den schönen Tagen, wenn sie nicht in ihrem Autowrack sitzt und die wilden Hunde beobachtet, kommt es ihr auf ihren Spaziergängen vor, als ginge sie nach einer schweren Krankheit das erste Mal seit langem wieder an die Luft. Alles fühlt ich ungewohnt an, so als müsse sich auch die Welt um sie herum daran gewöhnen, dass ein wenig Platz geschaffen werden muss für den ungeplanten Gast.
Beffaná beginnt sich an das Gefühl zu gewöhnen, nicht wirklich in diese Welt zu gehören und keine feste Aufgabe darin zu haben. Denn irgendwo, ganz in der Nähe, da gibt es eine Beffaná, die all das erledigt, was eine Beffaná in dieser Zeit zu tun hat. Und Sie, die überzählige, die alte Frau mit dem Gesicht, dass einigen in der Stadt irgendwie bekannt vorkomme, sie kann einfach von Außen zuzuschauen und hin und wieder dem alten Wind nachspüren, der hier immer noch weht.
Sie könnte sich an diese Art zu leben gewöhnen, denkt sie, aber da sind auch die vielen kleinen Dinge, die ihr zu schaffen machen. Die vielen Pausen, die sie auf ihren Gängen einlegen muss. Der unbequeme Schlafplatz im Auto. Das ständige Versteckspiel vor Leuten und Wesen, die sie erkennen könnten. Und als der Herbst mit seinen ersten kalten Nächten kommt und sie den Zugvögeln bei ihrem Aufbruch nach Süden zuschaut, da ahnt sie, dass sie sich bald entscheiden muss, ob sie in dieser Welt ganz ankommen will, oder ob sie sich einen Weg zurück sucht.
Es ist in der dritten Oktoberwoche, als Beffaná beim Erreichen des Schrottplatzes plötzlich eine heftige Beklommenheit in sich aufsteigen fühlt. Und zu ihrem Erstaunen bemerkt sie, dass sich auch die Hunde winselnd in verschiedene Ecken verziehen und sich ganz flach auf den Boden legen. Etwas spannt sich in der Hexe, sie muss sich vorbereiten auf eine unsichtbare Gefahr, das spürt sie. Doch als von hinten der Angriff erfolgt, schnell und ohne Vorwarnung, da geht ihr Abwehrzauber nicht nur ins Leere, er wendet sich gegen sie selbst und Beffaná, die alte Frau, wird zu Boden geschleudert.
„Beffaná!“ Die Stimme in ihrem Kopf klingt scharf und bestimmt, aber nicht bösartig. Und dann erinnert sie sich.
„Phlox!“ ruft Beffaná und hält kurz inne. Nachtschrate kommunizieren ausschließlich telepathisch.
„Phlox! Das ist eine Überraschung!“
„Du bist hier nicht richtig“, wispert die Stimme des Nachtschrates in ihrem Kopf. „Du lebst hier nicht. Du lebst im Hochhaus bei den Mietskasernen. Und jetzt, in diesem Augenblick, kann ich dich dort wittern. Wer oder was bist du, alte Hexe?“
„Ich besuche euch, Phlox. Das ist alles. Ich hatte Sehnsucht nach ein paar Dingen von früher. Ich versuche, mich nicht einzumischen. Sag niemandem, dass ich hier bin, Phlox. Bitte.“
„Du bist nicht in der Position, mich um einen Gefallen zu bitten“, sagt Phlox. „Erinnerst du dich? DU stehst in MEINER Schuld.“
Ja, das stimmt. Phlox hatte Beffaná damals geholfen, ihren Bruder Jacob im Wald wiederzufinden, als er versucht hatte, einen alten Zombie zu erlösen.
„Du stehst in meiner Schuld, Hexe“. Mit diesen Worten hatte Phlox sich damals verabschiedet und Beffaná hatte damals versprochen, das nicht zu vergessen.
„Ist es das, warum du hier bist?“ fragt sie den Nachtschrat. „Um diese Schuld nun einzulösen?Warum gehst du nicht zu der anderen, der jüngeren Beffaná?“
„Ich brauche eine, die Zeit hat“, sagt Phlox.

Es ist sehr beschwerlich Phlox zu folgen. Das Nachtschratweibchen ist selbst schon alt und solange sie sich an der Oberfläche bewegen, ist Beffaná eher zu schnell für Phlox. Doch nachdem sie den geheimen Zugang zu einer Höhle hier sich gelassen haben und sich durch tiefe Dunkelheit tasten, bleibt Beffaná immer weiter zurück. Endlich bemerkt sie einen kühlen Luftzug und es scheint der Hexe, als kämen sie in eine große unterirdische Halle. Und hier gibt es endlich wieder etwas Licht, das von weit oben durch ein Loch in der Felsdecke bis nach unten scheint. Der Luftzug ist eisig in der Hallo und Beffaná fröstelt.
„Ich möchte dir Aja vorstellen“, sagt Phlox. „Aja versteckt sich schon sehr lange hier und es wird Zeit, dass sie sich herauswagt.“
Beffaná versteht sofort, um was es sich hier handelt. Ein Schauer läuft ihr über den alten Rücken. Aja ist ein Wind.
Phlox erklärt ihr, dass Aja schon sehr lange hier unten lebt, wahrscheinlich schon seit tausenden von Jahren, und dass sie immer noch nicht wagt, hinaus in den Himmel zu fliegen. Aja sagt kaum etwas. Immer wieder spürt Beffaná sie wie in einem eisigen Hauch um Phlox und sie herumfliegt.
„Aja ist für einen Wind noch sehr, sehr jung“, sagt Phlox. „Sie braucht eine Lehrerin, eine, die Geduld hat. Und sehr viel Zeit.“
„Ich könnte sie zu meinem Vater bringen“, sagt Beffaná.
„Der hat zu tun“, sagt Phlox. „Erinnerst du dich? Da draußen gibt es eine Hexe, die ohne ihn ziemlich aufgeschmissen ist. Außerdem ist das meine Bitte. Und das deine Schuld. Ich kann dich nicht zwingen, aber du solltest immer daran denken, was du und deinesgleichen mir und den anderen angetan haben.
Früher haben Hexen Nachtschrate gejagt und dressiert. Und Beffaná selbst war es, die Mino und seinem Vater damals dabei geholfen hatte, das Nachtschratweibchen Phlox gefügig zu machen. Und damit ist die Sache entschieden.
Es ist schwer mit Aja. Beffaná hält sich selbst für eine gute Lehrerin, aber Geduld war noch nie ihre Stärke. Und davon benötigt sie bei Aja mehr, als sie sich jemals hätte vorstellen können. Es dauert Monate, bis sie Anja dazu bekommt, die Höhle zu verlassen. Jeden Tag kommt Beffaná zur Nachtschrathöhle und bleibt einige Stunden bei Aja. Ernst nach einen Monat spricht Aja das erste Mal mit ihr und es dauert länger als ein Jahr, bis sie ihre erste Runde über dem freien Feld am Stadtrand fliegt.
Wenn Beffaná nicht bei Aja ist, sitzt sie viel auf einer Bank am Stadtrand, vor allem dann, wenn sie den Nordwind spürt. Und mit jedem Mal, wenn sie ihn vorbeiziehen lässt, ohne etwas zu rufen, wird es schwieriger, es beim nächsten Mal überhaupt zu versuchen.
Allerdings merkt Beffaná schnell, dass ihre Fortschritte mit Aja so kleine sind, dass sie – so realistisch muss sie sein – wahrscheinlich sterben wird, bevor der kleine Wind soweit ist, mit den großen mitzufliegen. Das sagt sie auch Phlox.
„Eigentlich hast du schon genug getan“, antwortet ihr das Nachtschratweibchen. „Wahrscheinlich muss Aja noch viele Jahre alleine weiter üben, bis irgendwann eine Hexe zusammen mit ihr fliegen kann. Aber die Frage ist doch: Was möchtest du in der Zwischenzeit machen, Hexe? Wenn du deinen Vater sprechen möchtest, dann solltest du es jetzt bald tun. Sonst schaffst du es nie mehr.“
Darum macht sich Beffaná eines Tages ganz allein auf den Weg. Sie bucht ein Zugticket, packt sich eine Tasche mit Butterbroten und gekochten Eiern und fährt weit nach Westen an die Küste. In einem Touristenshop in der Nähe des Strandes besorgt sie sich einen billigen Besen und nimmt den beschwerlichen Fußweg auf die Klippen in Angriff .Vier mal macht Beffaná eine Atempause, bis sie oben ankommt. Von hier aus hat sie einen guten Blick auf das Loch draußen in den vorgelagerten Klippen. Das ist die Stelle, denkt sie, an der ihre Mutter, Leah, wie Wahnsinnige, ihren Wettflug gegen die schnellsten und wendigsten Sturmmöwen des Nordatlantiks gewonnen hat. Weil sich der Sturmwind der Nordens in sie verliebt hatte.
Wenn ich ihn hier rufe, weiß Beffaná, dann wird er kommen. Und dann wird er auch mich tragen, wenn ich es nur möchte. Noch einmal in den Armen meines Vaters fliegen. Und als sie es sich vorstellt, wie ihr Vater, der Wind, sie wohl begrüßen wird, wenn sie ihn ruft, wie überrascht er sein wird, sie in dieser Form zu sehen, da fällt ihr zum ersten Mal auf, wie selbstsüchtig sie die ganze Sache bisher gesehen hat. Er wird diese alte Frau sehen, die die Traurigkeit über seinen Tod in den Augen hat und er wird ihre Tränen sehen. Ist es das, wie ihr Vater sich in Zukunft an sie erinnern soll, wenn er dann zurück zu der anderen Beffaná kommt, die einmal sie selbst sein wird? Eltern sind alt und Kinder sind jung, denkt Beffaná da. Vielleicht gibt es Dinge, die einfach so bleiben sollten.
Und sie schreit, so laut, wie sie es nur vermag: „Hey, Schrödinger! Wenn du auch nur einen Funken Anstand in deiner Katzenbirne hast, dann beweg deinen flauschigen Hintern hierher. Und sieh zu, dass du mich in einem Stück zurückbringst. Potzblitz!“
Und dann springt sie.