Liebe Hörenden der Beffaná-Geschichten. Bevor es mit der 12. Folge losgeht, möchte ich auf die Website dieses Podcasts Beffaná.net hinweisen. Dort ist heute, am 12. Dezember 2022 eine Galerie der ersten 12 Folgen-Cover-Bilder veröffentlicht. Gemalt hat sie wie üblich mein Freund Kai, und da nicht alle Podcast-Programme diese Bilder verlässlich anzeigen, will ich auf jeden Fall darauf hinweisen, sie sich anzusehen. Sie sind nämlich toll. Danke, Kai. Und jetzt gehts los…

Potzblitz, ein langer Tag!

Erst pfeift der Wind nur leise, bläst dann immer stärker, bis er schließlich tobt und brüllt: „Hey, Weihnachtshexe Beffaná! Wach auf, es wird ein schöner, langer Tag! Wir werden durch den Himmel sausen, herrlich wildes Wetter hab ich mitgebracht!“
Und Beffaná erwacht. Sie liegt in ihrem Bett und blinzelt müde in die Dunkelheit. Das Zimmerfenster ist geöffnet und sie lauscht noch eine Zeit lang nach dem Ruf des Windes, blinzelt noch ein letztes Mal, dann springt sie auf. Denn gleich beginnt ein wunderbarer Tag: Der 24. Dezember, Weihnachten. Sie läuft zum Fenster: „Vielen Dank fürs Wecken!“ Und in ihren Ruf hinein beginnt der Schlag der Turmuhr. Zwölfmal schlägt die Glocke, Mitternacht!
Die Hexe schließt das Fenster, tapst zum Küchentisch, und zündet eine Kerze an, setzt noch im Nachthemd einen Wasserkessel auf den Herd, holt aus dem Küchenschrank ein Döschen voll mit selbst gepflückten Kräutern aus dem Park: Breitwegerich und Brennessel, Giersch, Wiesenkerbel, Gänseblümchen gut gemischt mit ein paar Weißdornblättern. Eine Handvoll Kräuter wirft sie in die Tasse, gießt das heiße Wasser aus dem Kessel auf, und bald schon dampft die Tasse voll mit Kräutertee auf ihrem Küchentisch. Geschwind wäscht Beffaná sich ihr Gesicht mit herrlich kaltem Wasser, quietscht, als ihr ein Rinnsaal in den Rücken läuft. Sie schaut zum Spiegel, mustert ihr Gesicht: Die großen brauen Augen, ihre liebevoll gepflegten Warzen, rote, wild gelockte Haare und ein großer Mund, der aus dem Spiegel lacht. Sie läuft zu ihrem Kleiderschrank, aus dem sie dicke Baumwollunterwäsche klaubt sowie den bunt geflickten Rock, die Unterhose mit den roten Streifen und die grüne Bluse mit dem Drachenkopf. Zuletzt greift sie zu ihrer gelben Jacke und setzt sich den großen Hexenhut auf ihren Kopf.

„Das wird ein langer Tag! Ein guter Tag! Potzblitz, mit vielen freudestrahlenden Gesichtern!“, ruft die Hexe und zieht sich den Hut tief ins Gesicht. „Komm, lieber Wind, jetzt müssen wir uns sputen, damit auch kein einziger vergessen wird.“ Der Wind heult auf, und trägt den Besen über alle Dächer, alle Wipfel, alle Häuser in die kalte Winternacht hinein.

„Hey Beffaná“!
„Wo bin ich?“
„Wir sind bei Niklas in der Weihnachtswerkstatt, Beffaná.“
„Was ist passiert?“
„Erinnerst du dich? Es hat gebrannt…“
„Günter! Wie geht es allen?! Was ist mit den Menschen im Haus?“
„Es sind alle herausgekommen, Beffaná. Alles ist gut.“
„Nichts ist gut, Günter. Nichts ist gut… Ich habe… ich habe ein Mädchen gesehen. Rouge.“
„Ich hab sie auch gesehen, Beffaná. Sie hat uns alle gerettet. Sie hat uns durch den Spiegel direkt hierher geführt. Zu Niklas.“
„Und was ist das hier alles? Meine Sachen…“
„Das ist alles was übrig geblieben ist, Beffaná. Das meiste ist verbrannt. Dein Besen. Der Geschenksack.“
„Die Bilder?“
„Die Bilder sind weg Beffaná. Das meiste, was gerettet wurde, stimmt aus der großen Eichenkommode. Es liegt alles auf dem Stapel da.“
„Ist Rouge noch da?“
„Nein, es ging alles sehr schnell und dann waren wir alle hier. Lilith, die Mehlwürmer, die Totenuhr-Käfer. Helena.“
„Helena?“
„Die Ziege?“
„Ich wusste nicht, dass sie Helena heißt. Ich habe sie Phlox genannt.“
„Hieß so nicht der Nachtsschrat damals? Als du beim Krampus warst?“
„Hab ich dir das erzählt? Hab ich… hab ich dir jemals von Rouge erzählt, Günter?“
„Es gibt eine Geschichte über Rouge in einer alten Krähenpost. Das Mädchen im Spiegellabyrinth. Der Spiegelgeist, dem du gezeigt hast, wie es ist, ein Mensch zu sein.“
„Weißt du, wie ich Rouge kennengelernt habe, Günter? Hab ich das jemals erzählt?“
„Nein, Beffaná.“
„Einmal bin ich mit meinem Vater auf die Kirmes gegangen. Und da war dieses Spiegelkabinett. Ich war noch sehr jung. Da hatte ich Sami noch nicht, meinen kleinen Hund. Und Jacob war noch ganz klein, er lag im Kinderwagen. Ich wusste damals nicht, wer meine Mutter war und WAS ICH WAR. Mein Vater hat jedenfalls auf der Kirmes draußen vor dem Spiegelkabinett mit dem Kinderwagen auf mich gewartet..“
„War da deine Mutter schon…?“
„Meine Mutter war schon nicht mehr da. Ja. Rate, was ich damals anhatte Günter. Welche Kleidung?“
„Ich glaube ich ahne es.“
„Ein rotes Kleid und feuerrote Schuhe, Günter.“
„Also hat Rouge sich damals gewünscht, wie du auszusehen?“
„Ich hab bei meinem ersten Besuch nicht gewusst, dass sie da war. Erst später, als ich sie wieder traf, da erkannte ich mich wieder. Und ausgerechnet sie rettet uns.“
„Weil du sie vorher gerettet hast, Beffaná.“
„Nicht ’weil’, Günter. So funktioniert das nicht. Es ist nicht alles Leistung und Gegenleistung. Sie hat geholfen, weil es das richtige war. Es ist einfach geschehen. Und manchmal entstehen daraus gute Geschichten.“

Es dauert ein bisschen, bis Beffaná wieder auf den Beinen ist. Sie versichert Niklas und Günter, dass sie niemals die Absicht hatte, die Wohnung anzuzünden. Sie war nur unglaublich wütend gewesen auf alles. Günter hatte vermutet, dass ihr Zorn auch den Zootieren galt, die keine Geschenke für seine Weihnachtsaktion beisteuern wollten, doch so war’s nicht. Beffaná war hier ganz Marthas Meinung: Die Zootiere mussten sich jetzt um wichtigere Dinge kümmern. Umso mehr tat es ihr leid zu hören, das die Sache nicht gut lief. Der Zoo war, so hatte Günter gehört, von Sicherheitskräften umstellt. Aber das würden Cosette und die anderen hoffentlich irgendwie hinkriegen.
Nein, Beffaná war wütend gewesen, dass sie nicht mehr fliegen konnte. Dass Schussel, die alte Suchmaschine, einige Tage vorher, tja, gestorben war, oder wie auch immer man es nennen sollte. Und da war es dann geschehen. Ein zorniger Zauber gegen den Besen und auf einmal stand der Flur in Flammen.
„Ich konnte nichts tun“, sagt Beffaná. „Vielleicht wollte ich am Anfang nichts tun. Vielleicht… vielleicht war ich sogar erleichtert, dass alles endet. Doch dann fielen mir die anderen ein. Die Ziege vor allem. Diese furchtbare Rübe! Und die anderen Bewohner im Haus. Und ich war trotzdem außerstande, irgendetwas gegen das Feuer zu unternehmen.“
Meist sitzt Beffaná zusammen mit Günter in ihrem Gästezimmer bei Niklas und geht die wenigen alten Sachen durch, die ihr noch geblieben sind. Auch einige der gerade so mühevoll besorgten Geschenke, das hat Günter erfahren, sind bei dem Feuer zerstört worden: Der Treppenlift von den Ghuls: Zumindest teilweise zerstört. Die Streichholzschachtel mit der Spieluhrmechanik. Und auch das Fotoalbum vom Sturmgespenst zusammen mit Anil, Beffanás Vater.

„Ich bin die Sache falsch angegangen“, sagt Günter schließlich.
„Was meinst du?“
„Mit den Geschenken. Wir wollten dir einfach eine Freude machen. Aber weißt du was? Wir haben versucht, die Symptome zu lindern. Wir hätten die Verhältnisse ändern sollen!“
„Was meinst du damit, Günter?“
„Du bist die Weihnachtshexe, Beffaná! Es ist zwar ganz nett, Dir etwas zu schenken. Aber weißt du was? Das einzige, was wirklich hilft, ist, dass du wieder selbst rausgehst und dein Weihnachtshexen-Ding machst. Nicht ich sollte durch die Gegend fliegen. Sondern Du!“
„Ich kann nicht, Günter! Mein Vater, der Wind, ist tot!“
„Dein Vater, Beffaná, war Flugzeugingenieur, solange er ein Mensch war. Menschen können auch nicht fliegen, aber dein Vater hat ihnen verdammt noch mal Flugzeuge gebaut! Und dann konnten sie es doch!“
„Hm.“ (Lacht) „Hast du mir ein Flugzeug gebaut?!“
„Nee. Ich hab in deinen alten Sachen rumgeblättert. Weißt du noch? Deine Bachelorarbeit? ‚Sinnsuche für Superschurken! Eine kulturwissenschaftliche Fallstudie zum Godzilla-Mythos. Bachelor-Arbeit vorgelegt von Beffaná Leah Grimm, Hochschule für Angewandte interkulturelle Regionalgeschichte, Stemwede – Oppenwehe – Rahden‘“
„Stimmt. Die hat den Rattenkönig damals so beeindruckt, dass er bei mir zu Besuch gekommen ist und mich fressen wollte.“
„Ich hab bei deinen Sachen noch was anderes gefunden, Beffaná. Ein Liederbuch.“
„Ach das, ja. Da hab ich Monsterlieder gesammelt, die mir gefallen haben.“
„Eins ist über Godzilla.“
„Ja, stimmt.“
„Es steht was drunter geschrieben, Beffaná. Weißt du das noch?“
„Ja. ‚Vorsicht’ steht da. Vorsicht, kann sein, dass es funktioniert.“
„Wollen wir es nicht mal ausprobieren, Beffaná? Ich kann dir kein Flugzeug bauen. Aber vielleicht gibt’s noch was viel besseres!“
„Es könnte gefährlich sein, Günter.“
„Das ist es ja, was ich hoffe.“

Es ist Sonntag, der Regen schlägt ans Fenster, und mein Zimmer sieht aus wie mein Leben
Chaotisch, ich lieg auf meinem Bett, es ist einfach idiotisch.,
Wann kommt die Nacht, wann kommt der Schlaf, wann erwachst Du?
Dein Brüllen in der schlafenden Stadt, wenn du lachst, viele Stunden haben wir so verbracht

Ich hab alle, alle Farben verloren, alle Farben außer Grau steh‘n da draußen am Fenster,
steh‘n verloren im Sturm, vom Regen gebogen.
Wann kommt die Nacht, wann kommt der Schlaf, wann erwachst Du,
Wir brüllen in die schlafende Stadt, du machst ihnen Angst, und ich bin endlich erwacht

Godzilla, du trägst mich, du bist laut, stellst keine Fragen, vertraust mir, zerstörst alles Grau. Du zertrampelst mein Leben – ist okay, es war eher so mau…
Godzilla, du trägst mich durch die Nacht, du bist da und du schlägst für mich jede Schlacht, lässt mein Leben erbeben. Gut, alles besser als grau.

Es ist Sonntag, und vor mir gähnt die Woche wie ein Abgrund, der alles verschlingt
In mir drin, gibt‘s nur‘n Bauch voller Schnüre, die entwirrt werden müssen

Wann kommt die Nacht, wann kommt der Schlaf, wann erwachst Du?
Dein Brüllen in der schlafenden Stadt, wenn du lachst, viele Stunden haben wir so verbracht

Ich hab alle, alle Kühnheit verloren, vor mir bäumt ein sich Berg voller Angst,
Bin erstarrt, alles Leben erfroren
Wann kommt die Nacht, wann kommt der Schlaf, wann erwachst Du?
Wir brüllen in die schlafende Stadt, du machst ihnen Angst, und ich bin endlich erwacht

Godzilla, du trägst mich, du bist laut, stellst keine Fragen, vertraust mir, zerstörst alles Grau. Du zertrampelst mein Leben – ist okay, es war eher so mau…
Godzilla, du trägst mich durch die Nacht, du bist da und du schlägst für mich jede Schlacht, lässt mein Leben erbeben. Gut, alles besser als grau.

Wann kommt die Nacht, wann kommt der Schlaf, wann erwachst Du?
Wir brüllen in die schlafende Stadt, du machst ihnen Angst, und ich bin endlich erwacht

Godzilla, du trägst mich, du bist laut, stellst keine Fragen, vertraust mir, zerstörst alles Grau. Du zertrampelst mein Leben – ist okay, es war eher so mau…
Godzilla, du trägst mich durch die Nacht, du bist da und du schlägst für mich jede Schlacht, lässt mein Leben erbeben. Gut, alles ist besser als grau.

Potzblitz. Und natürlich funktioniert es. Als Beffaná das Fenster öffnet, hört sie draußen bereits ein Brüllen.