Am dunkelroten Abendhimmel

Zeichnen blutorangene Kringel

Einen Weg, wo einst die Sonne

In die dunkle Dämmerzone

Stürzte und dann unterging

Eine Krähe fliegt entgegen 

Allem Rat weitab der Wege

Weg vom letzten Sonnenfunken

Wo der Erdenstern ertrunken 

Stetig dunkler Nebel hing

Lange schon ist Günters Reise

Ihm entglitten auf die Weise

Dass er sucht und nirgends findet,

Was der Hexe Nöte lindert

„Krah!“ ruft Günter, „viele Tage

Trag ich nun die Last, beklage 

Niemals, dass ich im Gedenken

 Uns’re Hexe zu beschenken

Viele hundert Meilen flog

Und die Hoffnung häufig trog.“

Dann jedoch, in just der Stunde

Bringt ein Häher schlimme Kunde:

„Günter!“ ruft er, „flieg nach Hause!

Zu der Weihnachtshexe, sause

Wie man’s selten von dir kennt!

Denn das Hexenhaus, es brennt!“

„Hör mich an!“ keucht Günter flehend

Und er stützt sich in die Böen

„Flieg, verbreite Klipp und klar:

Beffaná ist in Gefahr

Günter gibt es ungern zu, aber im letzten Jahr hat der die Weihnachtshexe weniger besucht als sonst. Klar, er könnte das auf sein eigenes Alter schieben, Günter ist, selbst für eine Krähe, sehr sehr alt. Aber das ist nicht der Grund. Es liegt such nicht daran, dass er keine Zeit hätte. Bis er mit der Geschenkaktion für Beffaná begonnen hatte, hatte er sogar sehr viel freie Zeit. Manchmal mehr, als ihm lieb war. 

Nein. 

Günter konnte es zuletzt nur noch schwer ertragen, die alte Weihnachtshexe leiden zu sehen. Sie wurde immer kleiner und unsicherer. Und sie ließ sich nicht helfen. Natürlich gab es auch immer wieder dieses Aufblitzen der  alten, also: jungen, Beffaná. Aber diese Momente wurden immer seltener. Und mit jedem Freund, jeder alten Begleiterin, die sie verlor, schien Beffaná auch ein klitzekleines Stück von sich selbst zu verlieren. 

Von ihrer langen Liste an Wesen, Monstern, Tieren und Menschen, denen sie immer wieder etwas geschenkt hatte, musste sie jedes Jahr neue Namen streichen. 

Die verbliebenden Namen und auch die ganz neuen hatte sie zuletzt in Niklas’ Verantwortung übertragen. Niklas, der Junge, den sie damals selbst zu ihrem Helfer gemacht hatte, hat inzwischen selbst graue Haare und sein rotes Fahrrad, mit dem er durch die Luft fliegen kann, bleibt wegen seiner Knieschmerzen häufig in der Garage.. Niklas scheint es im Übrigen wie Günter zu gehen. Natürlich besucht auch er Beffaná regelmäßig. Oder sie trafen sich zuletzt alle gemeinsam bei Geraldine und Reinhold, dem Erfinderpärchen, in der Werkstatt. Dort bastelten sie ein wenig an neuen Geschenkideen herum und erzählten sich von den alten Zeiten. 

Aber auch alle anderen bemerkten wie sich Beffaná veränderte. Wie aus ihrer Unbekümmertheit und ihrem Tatendrang nun häufig Resignation wird. Anil zu verlieren, war noch einmal ein ganz besonderer Schlag. Denn Beffaná verlor ihren Vater und ihren Wind und damit ihre Fähigkeit und ihre Lust zu fliegen. Obwohl sie selbst schon alt ist, steht sie nun zum ersten Mal morgens ohne das Gefühl auf, dass da draußen vor ihrem Fenster, vor ihrer Wohnung im achten Stock des Hochhauses mitten in der Stadt, jemand wartet. Einer, der über sie wacht, der stolz auf das ist, was sie tut. Und Günter, die alte Reporterkrähe weiß, dass das etwas ist, das jeder und jede, egal wie alt, erfahren und stark man ist, verdammt gut gebrauchen kann. Bei Günter ist es ganz genauso: Immer, wenn er früher nicht weiter wusste oder jemanden brauchte, der er von seinen großen und kleinen Erfolgen erzählen konnte, war er zu Beffaná geflogen. Vielleicht denkt er, und er schämt sich ein bisschen dafür, vielleicht hat er sich die Sache mit den Geschenken für Beffaná auch deshalb ausgedacht, damit er mehr unterwegs sein kann und die Hexe, für die er ds alles doch tut, nicht so häufig besuchen muss.

Als der junge Eichelhäher Günter spät am Abend erreicht und ihm die Nachricht bringt, dass Beffanás Haus brennt, ist Günter wie vor den Kopf gestoßen. Er schickt den jungen Häher sofort weiter, um alle Freunde zusammenzutrommeln und zum Hochhaus mitten in der Stadt zu kommen. Aber es ist fast stockdunkel, der Häher wird heute kaum noch jemanden erreichen. Günter fliegt los, so schnell er kann. Was ist bloß geschehen? Und was ist mit Beffaná? Was mit der kleinen Ziege, die seit kurzem bei ihr wohnt? Was mit Lilith, Beffanas neuer Scrabble-Partnerin? Konnten die Nagekäfer und die Mehlwürmer, rechtzeitig fliehen, die Günter zuletzt heimlich zusammen mit einer Adventskarte vor Beffanás Tür abgestellt hatte? Und wie konnte das alles bloß passieren? Hat die Hexe eine Kerze brennen lassen? Hat sie in der Küche nicht aufgepasst? Und vor allem: Warum hat sie nichts tun können? Beffaná muss doch tausend Zauber gegen große und kleine Feuer kennen? Ist es vielleicht alles nur halb so schlimm und der junge Häher hat in seinem Eifer etwas zu viel Wirbel veranstaltet?

Nein, es ist alles noch viel schlimmer. Als Günter die Stadtgrenze erreicht, ist es tiefe Nacht, aber er kann den Schein der Flammen bereits von Ferne sehen. Das ganze Haus brennt! Das heoißt, dass nicht nur Beffaná, sondern dass alle Bewohner*innen in Gefahr sind! Günter ist völlig ausgepumpt, dennoch fliegt er schneller und schneller bis er am Parkplatz vor dem Haus ankommt. Zwei Löschzüge der Feuerwehr kämpfen gegen ein loderndes Feuer, das den gesamten achten Stock erfasst hat und bereits auf die anderen Etagen übergreift. Günter erkennt das junge Paar mit dem Kinderwagen, das inzwischen in Esmeralda Schniggenfittichs alter Wohnung lebt. Und er sieht, dass neben der Feuerwehr und vielen menschlichen Passanten und Hausbewohner*innen viele, viele Wesen aus der Tier- und Monsterwelt auf dem Gelände versammelt sind. Nicht offen natürlich. Aber überall auf den umstehenden Bäumen und Dächern, hinter Sträuchern und Autos verteilt stehen, kriechen, fliegen und glotzen sie ängstlich in den Feuerschein. Hinten bei den Mülltonnen drückt sich die Ghulfamilie von Cynthia und Bernhard zusammen mit einigen blassen Vampiren herum und unter einer Gruppe kahler Buchen  am anderen Ende des Platzes steht, so glaubt Günter es zu erkennen, Polly der Zyklop. Gegen ein solches Feuer können sie alle nicht viel unternehmen. Esmeralda, die alte Wetterhexe, sie hätte mir-nichs-dir-nichts einen apokalyptischen Regenguss über dem Hochhaus niedergehen lassen, doch Esmeralda ist inzwischen längst bei ihrer Freundin Leah Grimm. Im Himmel, in der Erde, oder wo auch immer die Toten hingehen.

Ohne weiter nachzudenken fliegt Günter hoch zu Beffanás Wohnung und schreit so laut er nur kann:

„Beffaná! Beffaná!“ 

Doch die Wohnzimmerfenster sind geschlossen und aus der Küche schlagen hohe Flammen heraus. Erst jetzt bemerkt Günter die große Schar anderer Vögel, die wie angestochen auf Höhe des achten Stockwerks ums das Haus herumfliegt. Er sieht viele Eulen und, auch wenn es Nacht ist, Spatzen, Zaunkönige, Meisen, Spechte und Amseln. In etwas weiterer Entfernung hört Günter das heisere Trompeten von Kranichen. So spät noch…? 

„Günter!“. Ein Birkenzeisig stößt von oben auf die Krähe hinab. „Kommt schnell zum Schlafzimmer!“ 

Er fliegt dem Zeisig hinterher um die Hausecke. Das Schlafzimmerfenster ist auf Kipp gestellt und beißender Rauch kommt heraus.

„Da!“

Durch eine nicht verrußte Stelle am Fenster kann man ein Stück des Schlafzimmerschrankes sehen. Und da, in einer Ecke neben der Schranktür und dem Spiegel, hockt die alte Hexe mit der Ziege Helena neben sich. Sie hat die Augen geschlossen und umklammert die Ziege. Ein klein wenig erleichtert bemerkt Günter, dass die Hexe auch den Zweig mit den Holzwürmern, die Rübe und die Mehlwürmer dicht neben sich in Sicherheit gebracht hat. Aber was heißt Sicherheit?! Sie sitzen in der Falle. Zwischen ihnen und dem Fenster züngeln bereits hohe Flammen. 

´Ès ist zu spät`, denkt Günter. Er selbst ist eigentlich zu groß, um durch den Fensterspalt zu passen, aber selbst wenn, was könnte er schon tun, außer mit seiner ältesten Freundin gemeinsam zu sterben?

`Dann werde ich genau das tun!`denkt er. ‚Immer noch besser, als von hier aus zuzusehen`!

Und damit quetscht sich Günter durch den Spalt. Der ist viel zu schmal, doch Günter ist viel zu verzweifelt, um einfach aufzugeben. Er quetscht und quetscht sich, er merkt, dass er eine Menge Federn verliert, aber schließlich kommt er durch. Die Hitze ist mörderisch! Günter versengt sich fast die Federn, als er über den Flammen zu seiner Freundin fliegt und schließlich neben ihr auf dem Boden vor dem Spiegel landet.

„Beffaná!“

Die Hexe scheint ihn gar nicht wirklich zu bemerken. 

„Beffaná!“

„Günter! Es ist meine Schuld. Der Besen! Ich war so wütend und da habe ich…. An der Garderobe… Auf einmal hat er gebrannt, Günter! Es tut mir so unendlich leid!“

„Beffaná, wir müssen dich hier rausholen!“

„Es ist zu spät, Günter!“

„Du musst zaubern, Beffaná!“

„Es ist… zu spät….“ Die Hexe hustet. „Hilf doch Günter! Die Kleine…!“ 

Die Hexe drückt die Ziege fest an sich.

„Schrödinger!“ krächzt Günter. „Es wäre höchste Zeit für Schrödinger.

Und Schrödinger…. Kommt nicht. Da ist keine Katze mit überlegenem Grinsen, die alles irgendwie in Ordnung bringt. 

 Beffaná murmelt etwas und Tränen rinnen über ihr altes, zerfurchtes Gesicht. Es wird immer heißer, der Rauch beißt in den Augen und die Luft zwischen Schrank und Spiegel beginnt um Beffaná, Helena und Günter zu flimmern. Dann steht ein kleines Mädchen vor dem Spiegel. Mit feuerroten Haaren, einem roten Kleid und feuerroten Schuhen. Hundertfach gespiegelt steht das Mädchen da, doch es bewegt sich nicht. 

„Du könntest ich sein, Beffaná“, sagt es ganz ruhig, als gäbe es keine Flammen, keinen Rauch und keine Verzweiflung. Es geht ein Stück zur Seite, die kleinen Kinderfüße stehen bereits im Feuer.

Doch das Mädchen bleibt ungerührt stehen.

„Beweg dich Beffaná!“ sagt es. Erst passiert nichts, immer wieder schaut Günter von dem Mädchen zurück zur Weihnachtshexe. Er ist wie gelähmt. Endlich sieht er, wie Beffaná zu kriechen beginnt.

„Nur keine Angst, mach weiter.“ 

Beffaná breitet ihre Arme über die Ziege aus, über  die am Boden liegende Rübe, den Zweig mit den Holzwürmern und die Tüte mit den Mehlwürmern und schiebt sie alle auf den Spiegel zu.   

„Nur immer weiter, Beffaná“, sagt das Mädchen, „nur immer weiter…“ Und Beffaná steht auf, schreitet bis zum Spiegel, zögert mit einem kurzen „Potzblitz, Rouge!“ und geht hinein. 

Günter sieht, dass das Mädchen nach Lilith, Gustav, Alwine und den Holzwürmern greift und mit ihnen auf den Spiegel zugeht. 

„Komm“, sagt es zu ihm, „Komm mit zu mir in den Spiegel. Das bin ich der Hexe schuldig.“