Bei einem kleinen Haus am Wald
Brennt Tag und Nacht ein Licht
Es scheint in einen kleinen Stall
Denn darin fürchtet sich
Zu später Stunde alle Zeit
Ein Zicklein, das dort lebt
Es braucht ein Licht, das Dunkelheit
Mit Mut und Trost verwebt
Dem Zicklein sind die Eltern früh
Gegangen, und es sehnt
Sich einen Weg im Leben, wie
Es dennoch weiter geht.
Und lange fand es keinen Schlaf
Bis es zuletzt die Hexe traf

Die Hexe kam durchs Gartentor
Bepackt mit einem Sack
Und darin schrie in einer Tour
Ein Kind, das Huckepack
Im Sack verstaut gefangen war
Es heulte jämmerlich
Dem Zicklein aber war schnell klar:
Dies Kind ist schrecklich schlicht
Sein Wortschatz war erstaunlich klein
Nur Fluchen konnt’ es wohl
Und hörte es mal auf zu schrein
Dann jammerte es hohl

Das Zicklein dachte: ‚Arme Frau’
Wie hält sie das bloß aus!’
Die klopft’ derweil mit viel Radau
Am Tor zu Niklas’ Haus

Günter sorgt sich um seine Weihnachtshexe. Zwar hat sie sich inzwischen oben bei Niklas ganz gut eingerichtet. Und hin und wieder gibt sie sich einen Ruck und ist fast die Alte. Hat Ideen, zeigt Initiative und es gelingt sogar die eine oder andere Zauberei. Dennoch merkt Günter ihr an, dass sie mit vielen Dingen schnell überfordert ist. Gerade jetzt ist es wieder soweit. Spätestens seit der Sache mit Castrop und seinem Ausflug zum Meer weiß die ganze Tier- und Monsterwelt, dass der Krisenstab von Niklas’ Haus aus operiert hat und dass Beffaná an der Operation beteiligt war. Seitdem reißt der Strom der Besucher nicht ab. Die allermeisten wollen nur das Beste, bringen Blumen und kleine Geschenke für Beffaná wobei und erkundigen sich, wie es jetzt weitergeht, nachdem sie ihre Wohnung verloren hat. Andere kommen mit konkreten Ideen. Eine stattliche Weinbergschnecke hat sich gestern Abend von einem äußerst gutmütigen Haubentaucher aus ihrem Winterquartier bis zu Niklas Haus transportieren lassen, um Beffaná den oberen Teil ihres Hauses zur Untermiete anzubieten. Aber die Schnecke konnte weder konkrete Nachfragen zu Details des angedachten Arrangements beantworten, noch konnte sie sich bis zum Ende des Gesprächs daran erinnern, warum sie eigentlich gekommen war und drohte mit der Polizei wegen Geiselnahme eines unbescholtenen Weichtieres. Da sie ansonsten noch recht knackig wirkte, fraß Günter sie auf. Andere Wesen kamen mit Bitten und Hilfegesuchen. Ein Pinguin aus dem unsichtbaren Zoo bot Beffaná den Vorsitz im provisorischen Infrastrukturausschuss der Zootiere an. Es mussten Konzepte für die Frisch- ud Abwasserversorgung, die Futterbeschaffung und die medizinische Notfallhilfe erstellt werden und irgendwie schien den Tieren eine Person mit übernatürlichen Fähigkeiten da eine gute Wahl zu sein. Günter wimmelte den Pinguin bereits an der Tür ab und gab ihm die Nummer von Reinhold und Geraldine.
Heute morgen warten in der Küche, die als provisorisches Wartezimmer dient, bereits ein Poltergeist, Hans-Gerd, das Sturmgespenst, sowie eine unbestimmte Zahl unsichtbarer Klopfmänner. Der Poltergeist will offenbar nur ein bisschen stänkern. Soll er ruhig warten, denkt Günter. Die Klopfmänner haben offenbar Probleme mit ihren neuen Akkuschraubern, vermutet Günter, denn die schweren Dinger fallen andauernd auf den Küchenboden und zerkratzen die Fliesen. Da außer Beffaná jedoch niemand die Sprache der Klopfmänner versteht (wenn sie denn eine haben), und da die unsichtbaren Hausgeister selbst außer Herumzuschweben und gegen irgendwelche Schränke zu klopfen auch nichts weiter unternehmen, um die Sache aufzuklären, bleibt ihr konkretes Anliegen erst eimal unklar.
Hans-Gerd sieht übel aus. Er hat ein blutunterlaufenes linkes Auge und eine blau angelaufene Wange. Gespenster können also blaue Flecken bekommen, denkt Günter. Wieder was gelernt. Als er Hans-Gerd fragt, was passiert sei, erzählt der irgendwas von „bin abgestürzt“ und „verdammter Wind!“. Offenbar hat Hans-Gerd in letzter Zeit häufiger Probleme mit plötzlich auftretenden Windböen und braucht den Rat einer erfahrenen Hexe. Zeit für Beffaná, sich blickenzulassen, denkt Günter, als jemand mehrfach und reichlich laut gegen die Haustür hämmert.
„Mach mal einer auf“ ruft er, doch aus dem Wohnzimmer kommt nur Liliths Stimme. Sie ist gegen den Lärm des gerade laufenden Films kaum zu verstehen:
„Keine Arme, keine Chance!“
„Dann stell wenigstens den Fernseher leiser“, kräht Günter, während er in den Flur fliegt.
„Keine Arme, keine Chance“, ruft Lilith und Günter fällt auf, dass das für ihn genauso gilt: Haustür öffnen ohne Arme ist eine Herausforderung. Erneut hämmert es an der Tür und von irgendwoher hört Günter Kindergeschrei und ein leises Meckern.
‚Ist das Helena, die da so gegen die Haustür bummst?‘
„Niklas“, ruft Günter, „ich brauch mal einen Menschen hier oder irgendwas mit Armen. Zum Tür aufmachen!“
Als niemand antwortet, dreht Günter genervt ab und fliegt zurück in die Küche zum Küchenfenster.
„Einen Moment!“ ruft er und fliegt aus der Küche ins Freie.

„Ach verdammt!“ Günter wird von der Morgensonne geblendet. Der erste schöne Tag seit Langem, denkt er und will gerade um das Haus herum zur Vordertür fliegen, als er einen Schrei hört.
„NEIN!“
Was ist denn jetzt schon wieder los? Und da lokalisiert er schon die Lärmquelle. Es ist Schimmelpilz Bettie, die mit ihrer Wand von Polly-Godzilla auf den Rasen gelegt wird. Godzilla ist sichtbar und das wundert Günter. Eigentlich gibt es mit den Spinnen die Vereinbarung, dass sie tagsüber den Tarnschild aufrecht erhalten und nachts ausruhen können.
„Leg die Wand doch andersrum auf den Rasen!“ ruft Günter, „sonst zerquetscht du Bettie noch! Und warum bist du sichtbar?“
„Die Spinnen haben außerplanmäßige Betriebsversammlung“, sagt Polly, legt das Stück Mauer richtig herum auf den Rasen und zupft sich sein Godzilla-Kostüm zurecht. „Sie stimmen über flexiblere Arbeitszeiten ab und wollen bessere Bezahlung. 20 Kellerasseln pro Tag plus Sonderzulage fürs Wochenende.“
Dann senkt er seine Stimme:
„Günter, die Sache mit Godzilla, die funktioniert eh nicht mehr lange. Ich halt’s in diesem Kostüm nicht mehr lange aus! Es kratzt und stinkt, und meine Arme werden taub, weil ich sie nicht ausstrecken kann. Wollen wir ihr nicht einfach mal die Wahrheit sagen? Ich meine, sie ist doch jetzt ganz stabil!“
„Später“, sagt Günter. „Ich muss nach vorne zur Haustür.“
Er will gerade loslegen, stutzt aber noch einmal:
„Was soll das überhaupt werden?“
„Ich kriege ein eigenes Haus“, sagt Bettie. „Wir mauern mir drei weitere Wände, und oben kommt ein Dach drauf.“
„Passt bloß mit der Isolierung auf“, sagt Günter. „Nicht, dass es zu trocken und zu warm ist, sonst muss Bettie bald wieder umziehen.“
„Beffaná hat ein paar Kumpels aktiviert, die uns helfen sollen“, sagt Bettie. „Keine Ahnung wo die bleiben. Die sollten längst da sein.“
„Ah! Die Klopfmänner! Die sind längst da und warten in der Küche. Ich schick sie raus, wenn ich zurück im Haus bin.!“
Wenigstens die Sache ist geklärt, denkt Günter und fliegt nach vorne zur Tür. Er sieht gerade noch Helena und hört erstickende Kinderschreie, da wird er auch schon wie von einer unsichtbaren Eisenklaue gepackt und gegen die Mauer neben der Haustür gedrückt. Günter kann kaum atmen.
„Beffaná!“ zischt eine Stimme. Sie gehört einer buckligen alten Frau, die ihr Gesicht tief unter einem Kopftuch verborgen hält. Günter erkennt sie trotzdem sofort. Nibbel! Die abgrundtief böse Knusperhexe aus dem Hexenwald. Günter hat sie hat Jahrzehnten nicht mehr gesehen und hätte ziemlich viel drauf gewettet, dass sie längst tot ist. Beffaná hatte Nibbel bereits häufiger etwas zu Weihnachten geschenkt und sie zuletzt mit einer mörderischen Voodoo-Puppe namens Chuckie verkuppelt. Aber Dank hatte sie nie für Ihr Engagement geerntet war war mehrmals nur um Haaresbreite mit dem Leben davongekommen. All das ist inzwischen so lange her, dass Günter sich fragt, wie dieses Wesen so lange überleben konnte.
„Nibbel“, krächzt Günter und versucht zu Atmen zu kommen. Unten, neben Nibbelt Füßen steht Helena und die Ziege und mäht aufgeregt.
„Mäh! Potzblitz!“
„Helena, verschwinde besser“, bringt Günter irgendwie heraus, aber Helena denkt gar nicht daran zu verschwinden. Stattdessen kuschelt sie sich an den langen Rock der Hexe.
„Nibbel! Potzblitz!“
„Bringt mich zu Beffaná!“ knurrt Nibbel, und lässt ihren Sack, den sie vorher auf dem Rücken getragen hat, zu Boden fallen.
„Autsch, du blöde Kuh, pass auf! Lass misch hier raus, ey, mein Vater ist Anwalt, ey, der verklagt disch von hier bis Kabul, Alter, und du kannst einpacken.“
Günter bekommt immer schlechter Luft.
„Lass mich“, stöhnt er, und in diesem Moment öffnet sich die Haustür und Beffaná steht im Türrahmen.
„Nibbel!“ sagt sie. „Was… für eine Überraschung.“
„Ich habe ein Geschenk, Beffaná“, zischt die Hexe und öffnet den Sack mit dem zeternden Kind. Der Junge ist an Händen und Füßen gefesselt und windet sich auf dem Boden wie ein Wurm.
„Ey, kann mich mal eine von Euch Schabracken losmachen?“ ruft das Kind. „Ey, isch will sofort mit mei’m Vater spreschen, ey, der macht euch sowas von platt, Alter…!“
Beffaná macht eine Handbewegung und der Junge ist stumm wie ein Fisch. Der Mund öffnet und schließt sich, aber die Tonspur ist abgedreht.
„Ich versteh’s nicht“, sagt Beffaná.
„Ich erklärs dir, aber dafür müsstest du mich reinlassen.“
„Äh, ja. Klar. Komm rein. Aber lass bitte Günter frei, okay?“
Nibbel schaut kurz zu Günter und der kann sich plötzlich wieder frei bewegen. Dann schlurft Nibbel, gefolgt von Helena und Günter, hinter Beffaná ins Haus.

Der Junge, so stellt sich heraus, ist der Sohn des Anwalt einer Projektentwicklungsfirma, die aus dem Hexenwald ein Luxus-Ressort mit Golfplatz und Spa und einem Tropenbadeparadies machen will.
„Ja, das ist natürlich nicht gut“, sagt Beffaná, „Wobei so ein Badedingsbumms mit Sauna und allem schon super ist. Ich bin jahrelang in die Schwefeltherme von Baddeckenstedt gegangen, die ist schon Hammer.“
Als Nibbel sie böse anfunkelt, winkt sie ab.
„Aber ja, nee, schon klar. Ist natürlich unmöglich, wenn dafür ein Wald gerodet werden muss.“
„Geht mir auch gar nicht um das Hotel“, sagt Nibbel. „Hab gehört, du bist alt geworden. Das Balg ist für die Salbe!“
Nibbel zieht aus ihrer Schürzentasche einen fleckigen Zettel heraus.
„Koch ihn nach diesem Rezept ein, ausweiden, einmal durch den Mixer und das ergibt eine wunderbare Verjüngungssalbe. Ich mach das alle zehn Jahre, das hält dich jung!“
„Äh. Danke, Nibbel“, sagt Beffaná.
Der Junge auf dem Boden ist kreidebleich geworden.
„Äh, kann ich’s mir überlegen?“
„Hab’s mir schon gedacht. Du bist zu weich, den kleinen Mistkerl zu verarbeiten, oder?“
Nibbel schnaubt verächtlich. „Deine Entscheidung. Mach mit ihm, was du willst. Aber wenn ich noch einmal Post von seinem Vater kriege, wird die ganze Familie eingetuppert und kommt in die Gefriertruhe. So.“
Sie kramt in ihrem Sack, in dem sie das Kind transportiert hat
„Hast du sonst irgendwelche Beschwerden? Hitzewallungen? Gicht? Hüftschmerzen?“
Sie legt verschiedene Salben, Säckchen und Kästchen auf Niklas’ Wohnzimmertisch.
„Das ist hier ist gegen Vergesslichkeit. Aber wenn du ein Problem mit Kinderprodukten hast, nehm ich’s wieder mit.“
Beffaná nickt entschuldigend und Nibbel steckt das Döschen wieder ein.
„Ach so, ich hab noch was vergessen“, sagt Nibbel und öffnet das Wohnzimmerfenster.
„Adveni!“ brüllt sie mit Donnerstimme, hält ihre Hand in die Luft und nach einigen Sekunden fliegt ihr ein alter Besen in die Hand.
„Hier. Schenk ich dir“, sagt sie und wirft den Besen Beffaná zu, die ihn irgendwie zu fassen bekommt.
„Brauch ich nicht. Benutzt ich nicht. Find ich einfach nur albern“, sagt Nibbel. „Hab gehört, dass deine kaputt gegangen ist.
„Danke, Nibbel!“ sagt Beffaná. „Aber ich glaub nicht, dass ich noch mal einen Besen brauche.“
„Dann wirf ihn in den Müll. Mir egal. Bei mir staubt er nur ein. So. Das war’s. Ich bin weg.“

An der Haustür hält Beffaná Nibbel noch einmal auf.
„Warum?“ fragt sie.
„Warum, was?“ fragt Nibbel zurück.
„Warum die Geschenke?“
„Weil wir Hexen sind. Wir müssen zusammenhalten. Du hast das damals schon kapiert, bei mir hat’s gedauert.“, sagt Nibbel und wendet sich zum Gehen.
„Ach so“, sagt sie. „Ich will die Ziege mitnehmen.“
„Helena?“ Günter, der vom Briefkasten dem Abschied zugesehen hat, fliegt auf Beffanás Schulter. „Niemals! Was willst du mit ihr, sie auffessen?“
„Ich fresse nicht“, knurrt Nibbel und hält ihre Hand auf Kniehöhe nach unten. Aus dem Hausflur kommt Helena angelaufen und lässt sich von ihr streicheln.
„Wir haben uns heute Morgen früh angefreundet. Als ich gewartet hab, dass hier endlich mal einer aufsteht.“
„Aber“, sagt Beffaná und beugt sich zu Helena herunter. „Ich dachte du gehörst zu mir?“
Helena schaut von einer Hexe zur anderen. Schließlich leckt sie kurz Beffanás Hand und läuft zu der alten Knusperhexe.
„Nibbel“, sagt sie.
„Die Alte hat sie verhext!“ kräht Günter und versteckt sich aus Angst vor Nibbels Zorn hinter Beffanás Kopf. „Helena war ein Geschenk für Beffaná!“
„Nibbel!“, wiederholt Helena. Potzblitz!“
„Ist schon okay, Günter“, sagt Beffaná. „Weißt du, msn kann eine Helena nicht einfach so verschenken. Die ist ein Lebewesen und hat einen eigenen Willen.“
Günter ist sich ziemlich sicher, dass eine kleine Träne Beffanás Wange herunter läuft.
„Nibbel hat sonst niemanden. Außer vielleicht Chucky…“
Nibbel schüttelt den Kopf und macht eine Handbewegung, so als würde sie jemandem den Hals umdrehen.
„Pass gut auf Helena auf“, sagt Beffaná und wendet sich ab in Richtung Haustür. „Versprich mir, dass ihr nichts passiert.“
Nibbel nickt und schlurft zur Gartentür.
„Mäh! Nibbel. Potzblitz!“ mäht Helena und läuft der alten Hexe hinterher.