Es ist der Sommer des Jahres 2016 und in Mitteleuropa herrscht tiefer Frieden. Die Stromversorgung im Land funktioniert tadellos, denn der Wind weht und die Sonne scheint und überall im Land stehen zur Sicherheit noch ein paar unrentable Großkraftwerke herum, falls mal Flaute ist und dunkel. Computerhacker aller Länder liegen in ihren Hotelzimmern an den Westküsten der Welt und schlürfen Campari-Orange, statt mit revolutionärem Impetus die Cloud-Dienste von Amazon und Google anzugreifen. Heute, das nehmen sie sich ganz fest vor, verlassen sie zum ersten Mal ihr Zimmer, um am Pool ins Abenteurleben der Pauschaltouristen einzutauchen. Nur noch einen Drink. Einzig ein paar russische Tweetbots bombardieren unverzagt die braven Wählerinnen und Wähler der Swing-States des nordamerikanischen Kontinents mit Aufrufen zur Wahl eines hässlichen Narzissten zum Präsidenten ihres von Gott mit seinem Segen zugeschissenen Landes. Summary: Es läuft.

Wenn nur die Mutter des Abiturienten Jens Jeremias Kleist sich nicht weigern würde, ihr Smartphone zu benutzen. Es liegt seit Wochen tiefentladen in der Küche neben den alten Ausgaben der ZEIT, und verfügte es auch nur über ein Mindestmaß an Energie, Bewusstsein und motorischen Fähigkeiten, hätte es sich längst schon vom Fensterbrett auf die Küchenfliesen gestürzt, um der Ressourcenverschwendung seiner Herstellung durch einen Suizid die Krone des Absurden aufzusetzen. Jens hat schon viele Stunden seines jungen Lebens in die Missionierung seiner Mutter investiert, hat lange über lebensnahen Anwendungsszenarien gebrütet, um sie von den Segnungen der neuen Zeit zu überzeugen. Doch sie ist dumm geblieben. Ihr Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit steht weiterhin in den Sternen, und bis er doch noch eines Tages kommt, müssen alle anderen darunter leiden. Ihr selbst ist das egal, die kritische Attitüde gehört gewissermaßen zu ihrem Berufsethos als Lehrerin für Deutsch und Sozialkunde und solange kein Erlass ihrer Kultusministerin sie zu irgendetwas zwingt – als ob jemals…! -bleibt sie gelassen.

Jetzt sitzt Jens also auf dem Fahrrad und strampelt – mitten in den Sommerferien – zu seiner Schule, um einen profanen Einkaufszettel zu holen, den seine Mutter heute morgen, statt ihn in der Küche zu hinterlassen, zusammen mit den Unterlagen für den neuen Stundenplan in ihre Tasche gesteckt hat. Er hat ihr schon mindestens ein Dutzend Apps gezeigt, mit denen Einkaufszettel und To-Do-Listen online verwaltet und mit der Familie geteilt werden können, doch das einzige, was Ramona Kleist an Apps und Internet interessiert, sind lustige Emails ihrer Kollegen mit angehängten Powerpoint-Präsentationen, in die jemand mühsam Katzenvideos eingebettet hat. Meistens falsch, dann funktionieren sie nicht und Jens muss kommen, um das zu „reparieren“. Er hat es schon geahnt, als er die Nummer der Schule auf dem Display sah.

„Ja hallo?“

„Wer ist denn da?“

„Der Führerbunker.“

„Jens, das ist nicht witzig. Was, wenn jemand anders…?“

„Mama, ich kenne deine Stimme.“

„Warum meldest du dich nicht mit Namen?“

„Dito.“

„Was? Hör mal, ich muss wieder ins Meeting zurück. Der Grothaus hat die ganze Woche frei genommen.“

„Willst du es nicht sagen?“

„Was?“

„Ich weiß nicht. Lass mal überlegen. Wer Kennedy ermordet hat? Es waren die Echsenmenschen, oder?“

„Jens, ich muss jetzt auflegen.“

„Mama, DU hast MICH angerufen!“

„Schrei nicht so! Können dein Vater oder du bitte einkaufen gehen? Ich schaff das nicht.“

„Mein Vater ist nicht da.“

„Ja. Naja. Dann fahr du bitte.“

„Was denn?“

„Steht auf dem Einkaufszettel.“

„Der wo liegt?“

„Der liegt nicht, den habe ich hier in meiner Hand. Hol ihn dir bitte kurz ab, okay?“

„Aber das ist die völlig falsche Richtung!“

„Jens, ich muss zurück in Meeting. Die Liste ist lang.“

„Seit wann habt ihr Meetings in der Schule? Heißt das bei euch nicht Konferenz? Oder Lehrkräftevollversammlungsdingsbumms oder so?“

„Wir sind zu dritt, Jens. Es geht um den Stundenplan.“

„Kannst du die Liste nicht abfotografieren und… Ach vergiss es. Moment, faxen! Kannst du sie nicht faxen? Ich hab einen Softfax-Account bei sipgate.“

„Jens, bitte, wer faxt denn heutzutage noch? Klopf einfach am Lehrerzimmer an, okay? Ich muss zurück. Hab dich… wieso geht denn das jetzt nicht?“

„Mama?“

„Gerhard, ich hab den roten Knopf gedrückt, aber die Anzeige leuchtet einfach weiter.“

„Mama?“

„Legt einfach auf, Ramona, dann wird es dunkel. Die Taste ist kaputt, glaub ich.“

„Mama?“

„Aber zum Auflegen brauch ich doch die rote Taste!“

„Mama!“

„Jens? Bist du noch da? Warum legst du nicht auf?“

„Weiß nicht. Ich hab Ferien. Ich mache, was ich will.“

„Ich dachte, du bist längst schon unterwegs! Leg einfach auf, bei mir geht das gerade nicht.“

„Ist die Schultür denn nicht abgeschlossen? Ich kann nur am Lehrerzimmer klopfen, wenn ich in die Schule reinkomme.“

„Moment. Was, Gerhard?“

„Die Schultür, Mama.“

„Ach, du meinst, einfach auf die Station drauflegen? Bist du sicher? Und da stürzt nichts ab oder so? Das ist ja praktisch!“

Tüt-tüt-tüt.

Rechts hoppelt der Supermarkt an Jens vorbei. Die Welt wäre besser, wenn alle Supermärkte hoppeln könnten, immer neben potentiellen Konsumenten her, die Schiebetüren würden sich hin und wieder öffnen und aus dem Inneren würden pausbäckige Einzelhandelskauffrauen herausrufen:

„Heute alles billiger und besser und in Ihrer Lieblingsfarbe! Denn es ist Feiertag auf Grönland und da sollen alle Kunden profitieren, nicht nur die Eskimos!“

Im Hintergrund würden manchmal Cornflakes-Packungen und Milchschnitten aus den Regalen fallen bei der ganzen Hoppelei, denn wie alles im Leben hat auch Kundennähe ihren Preis. Doch ohne Einkaufsliste hilft das alles nicht.

Das Kopfsteinpflaster ist der letzte Scheiß, denkt Jens, während er weiter die Straße entlang hoppelt und strampelt. Sein Tretlager ist eh schon in einem fragwürdigen Zustand und nur weil die Bürgermeisterin an irgendeinem Landesprogramm zur Straßensanierungsförderung teilnehmen wollte, haben sie im letzten Jahr in der ganzen Stadt die Straßen aufgerissen, mit  riesengroßen LKW riesengroße Kopfsteinpflasterhaufen auf die Bürgersteige gekippt und dann einen Sommer lang gewartet. Die Förderperiode für die Baumaßnahmen fing erst im November an. Man müsste mal in diesem Bauausschuss zugucken, Jens’ Chemielehrer sitzt da drin und hält von Zeit zu Zeit Monologe über die Wichtigkeit lokalpolitischen Engagements. Der BMW-Händler an der Hauptstraße sitzt auch im Bauausschuss und muss dauernd rausgehen, weil seine eigenen Anträge beraten werden, hat der Chemielehrer erzählt. Er fährt auch BMW, einen älteren Z3, grün, aber top gepflegt. Jens hat im Herbst ein dämliches Gedicht geschrieben, über dessen zentrale Zeile „Das Kopfsteinpflaster fällt vom Kopfsteinpflasterlaster auf den Kopf des Pastors beim Kanasterspielen am Katasteramt“ wirklich niemand gelacht hat, was schlecht war, weil es die Argumentation in seiner Deutsch-Klausur zum Thema „Lyrik nach Auschwitz“ stützen sollte.

Zur Schule sind es noch zwei Kilometer. Er hat damals eine Vier bekommen, das Gedicht – es war recht lang, eigentlich mehr eine Ballade als ein Gedicht – war einfach durchgestrichen und an den Rand hatte die Lehrerin in rot, dick unterstrichen „ADORNO?!“ gekritzelt. Jens’ Vater, den alle Leute AJ nennen, hat eine Schildkröte namens Adorno. Man sollte meinen, dass Haustiere, die ein Erwachsener besitzt, irgendwann zu Familienhaustieren werden. Doch Adorno ist allein AJs Haustier. Er lebt im Arbeitszimmer und Jens kann ihn dort nur manchmal besuchen. Zu Karneval trägt Adorno einen lustigen Hut, weil AJ zu dieser Zeit meistens depressiv ist. Jens’ Deutschlehrerin ist eine Freundin seiner Mutter, sie hätte das eigentlich wissen müssen, bevor sie ihn kopfschüttelnd nach Hause schickte, als er nach der Stunde an ihrem Pult gestanden hat um nachzufragen, wie eine Schildkröte ein Gedicht verhindern will.

Szene 2: Führerbunker

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